Myasthenia gravis – für Anästhesisten

 

Heute widme ich mich einem Thema, das dem Vernehmen nach häufiger schon mal in Prüfungen vorkommt: Der Anästhesie bei Myasthenia gravis. Damit können hervorragend Physiologie und Pathophysiologie, sowie die Pharmakologie der Anästhetika miteinander verbunden werden. Im Grunde ein dankbares Thema.

Zunächst zum Krankheitsbild der Myasthenie ein paar Worte. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, die in ~80% der Fälle ausgelöst wird durch Antikörper gegen den postsynaptischen Acetylcholin-Rezeptor der motorischen Endplatte (genauer: häufig die alpha-Untereinheit des nikotinischen ACh-Rezeptors; alternativ gegen andere Bestandteile des Rezeptors).

Pathophysiologische Folgen sind:

  • Ak-vermittelt ein vermehrter Abbau von ACh-Rezeptoren, sodass insgesamt weniger Rezeptoren zur Verfügung stehen
  • direkte Inhibition der vorhanden Rezeptoren durch die Antikörper
  • Komplementvermittelte Zerstörung postsynaptischer Membranen.

Es gibt Patienten, bei denen keine Antikörper gegen ACh-R nachgewiesen werden können. Diese werden zwar als „seronegativ“ bezeichnet, aber vermutlich haben sie andere Antikörper, z.B. Anti-Titin, Anti-Ryanodin oder den Kalziumkanal. Die Folgen sind dieselben, wie sie weiter unten beschrieben werden.

Epidemiologie und Ätiologie

Die Prävalenz wird mit 25-100 Fällen pro 1 Mio. Einwohner angegeben [1]. Bei Frauen liegt Altersgipfel der Erkrankung im 3. Lebensjahrzehnt, bei Männern im 6. Jahrzehnt.

Verschiedene Formen werden ja nach Lebensalter unterschieden:

  • neonatale Myasthenie: beide Geschlechter betroffen, Verlauf transient durch diaplazentar übertragene Antikörper beim Stillen durch erkrankte Mütter
  • 0-2 Jahre: kongenitale Myasthenie, autosomal-rezessive Vererbung, nicht fluktuierender Verlauf
  • 2-20 Jahre: juvenile Myasthenie; w:m 4:1, Thymushyperplasie
  • 20-40 Jahre: adulte Myasthenie: Thymushyperplasie, maximale Ausprägung nach 3-5 Jahren
  • >40 Jahre: Altersmyasthenie: schneller Progress, hohe Mortalität

Nach [2]

Klinik

In der klinischen Untersuchung zeigt sich eine schnelle Ermüdung der quergestreiften Muskulatur, die in Ruhe schnell regeneriert. Zu Beginn der Erkrankung sind die Augenmuskeln betroffen, weil sie mit besonders vielen ACh-Rezeptoren ausgestattet sind. Im Rahmen der Tagesermüdung kommt es dann zu Ptosis und Doppelbildern. In späteren Stadien kann auch die restliche Muskulatur betroffen sein, bis hin zu Rumpf-, Extremitäten- und auch der Atemmuskulatur (Schluck- / Hustenreflex!) – da hören die Anästhesisten jetzt sicherlich auf J

Durch das „Eisberg-Phänomen“ der quergestreiften Muskulatur kommt es erst zu einer Muskelermüdung bzw. –lähmung, wenn die Acetylcholin-Spiegel deutlich abgefallen sind, an vielen Muskeln sogar auf unter 25% der Normalwerte! Dasselbe Phänomen wird auch immer wieder im Zusammenhang mit Muskelrelaxantienwirkung allgemein gefragt; aus diesem Grund sind supramaximale Dosen nötig, um einen Muskel wirklich effektiv zu relaxieren.

Muskelschwund; Heike C. Ewert

(Beim klinisch ähnlichen, aber pathophysiologisch deutlich anderen, häufig paraneoplastischen, Lambert-Eaton-Syndrom gibt es übrigens Autoantikörper gegen den präsynaptischen Ca2+-Kanal. Außerdem eine Anlauf-Schwere; d.h., dass die Symptome bei fortgesetzter Aktivität besser werden; diese Entität ist häufig paraneoplastisch anzutreffen, v.a. dem kleinzelligen Bronchial-Ca)

In der präoperativen Abklärung sollte ein aktueller neurologischer Status erhoben worden sein (am besten durch einen Neurologen).

  • Typ I: okuläre, leichte Myasthenie
  • Typ IIa: generalisierte Form
  • Typ IIb: schwere, generalisierte Form mit Beteiligung der faziopharyngealen sowie der Atemmuskulatur (bulbär)
  • Typ III: Akute, rasch progradiente generalisierte Form mit Beteiligung der Atemmuskulatur
  • Typ IV: Spätform der Myasthenie mit generalisierter Symptomatik, die sich innerhalb von 2 Jahren aus Typ I oder II entwickelt
  • Defektmyasthenie, die sich aus den Typen II und III entwickelt

nach [1], „Ossermann Klassifikation“

Zunehmend wird wohl die Klassifikation der amerikanischen MFGA[5] verwendet, die v.a. nach dem maximalen klinischen Schweregrad klassifiziert und nicht dem aktuellen Status. Kurzform für Anästhesisten: Je höher das Stadium, desto kränker ist der Patient. Die genaue Erläuterung muss man im Zweifel im neurologischen Befund oder der entsprechenden Quelle nachlesen.

Präoperative Abklärung: Erforderlich!

Bei höhergradigen Stadien sollte eine Lungenfunktionsprüfung und bei kardialen Symptomen auch eine Echokardiographie durchgeführt werden. Patienten mit Thymom infolge der Myasthenie, ggf. sogar zur Thymektomie benötigen einen Röntgen-Thorax in 2 Ebenen zur Abklärung einer eventuellen Trachealdeviation/-stenose.

Präoperative Laboruntersuchungen beinhalten ein großes Blutbild, Leber- und Nierenparameter, Elektrolyte. Das hat v.a. etwas mit den Immunsuppressiva zu tun, die organtoxisch sind (s.u.)

Die Sache mit der Eigenmedikation…

Die Eigenmedikation dieser Patienten mit Cholinesterasehemmstoffen (Pyridostigmin, Neostigmin) sollte perioperativ auf jeden Fall fortgesetzt werden. Präoperativ werden normale Dosen empfohlen; postoperativ sollte so früh wie möglich in reduzierter Dosis wieder begonnen werden. Kortikoide (v.a. Prednisolon; CAVE: akute Addison-Krise bei entsprechenden Dauerdosen möglich – entsprechend substituieren!) und Immunsuppressiva (AZA, MTX, Cyclophophamid etc.) sollten normal fortgeführt werden[6].

CAVE: Eine evtl. nötige postoperative intravenöse Umstellung erfordert eine Dosisreduktion der Cholinesterasehemmer auf ~3% der oralen Dosis[4].

Bei Notfall-OP sieht es mit den Abklärungen naturgemäß „lockerer“ aus, weil man einfach keine Zeit für eine ordentliche Abklärung hat (Folge: entsprechend erhöhtes perioperativen Risiko für Komplikationen wie Aspiration, Nachbeatmung bei myasthener Krise, Addison-Krise…).

Bei Elektiv-OPs sollte man bei unvollständigen Unterlagen darauf bestehen, erst alles beisammen zu haben, bevor es „losgehen“ kann. Außerdem sollte der Patient in einem stabilen Stadium seiner Erkrankung sein und nicht im akuten Schub; um eine postoperative myasthene Krise möglichst zu vermeiden.

Reaktion auf Anästhetika: empfindlich!

Markant ist die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber einer Reihe unserer Anästhetika.

Das beginnt bei der Prämedikation. Es sollte auf Substanzen mit muskelrelaxierenden Effekten verzichtet werden; dazu zählen auch die allseits beliebten Benzodiazepine. Sie haben zwar keine direkte relaxierende Wirkung, aber unterstützen sie durch zentrale Pathways (vgl. Tetrazepam). Also lieber drauf verzichten, oder schicke Substanzen wie Clonidin verwenden.

Die wichtigste Rolle spielen hier – und in Prüfungen – aber naturgemäß die Muskelrelaxantien. Durch die Erkrankung stehen bei den Patienten weniger freie ACh-Rezeptoren zur Verfügung, die bei „normalen“ Relaxans-Dosierungen deutlich überfrachtet werden und eine verlängerte Wirkzeit zur Folge haben (bis zu mehreren Stunden!). Deshalb an dieser Stelle: Der Muskelrelaxans-Bedarf ist deutlich reduziert.

Wieviel genau, ist aber nicht vorhersehbar. Deshalb gibt es an dieser Stelle zwei Strategien. Wenn möglich, auf Muskelrelaxantien verzichten; z.b. über die Verwendung von Larynxmasken, bei denen man ja nicht relaxieren muss, oder durch regionale Verfahren wie die Spinalanästhesie oder periphere Regionalanästhesie.

Relaxierungsstrategien und Wirtschaftlichkeit

Die andere Strategie wäre eine normale oder reduzierte Einleitungsdosis mit Rocuronium, das im Anschluss an die OP standardmäßig antagonisiert wird mit Sugammadex; eine sehr elegante, wenn auch teure Variante. Die postoperativen Komplikationen sind dann dieselben, als wäre kein Relaxans verwendet worden (also geringe, übliche Komplikationen).

Der Preis für Sugammadex ist zuletzt wohl deutlich gefallen (lt. „Arznei Aktuell“ im Moment etwa 100€/Ampulle, wobei das natürlich die reinen Apothekenpreise sind; Klinik-Verträge sind damit nicht erfasst und können schon noch etwas günstiger sein. Aber das hier nur, damit ihr eine ungefähre Größenordnung im Kopf habt: eine Ampulle Akrinor kostet ~9 Euro, und da wird ja immer schon ein „Tanz“ drum gemacht).

Übrigens kann Succinylcholin zwar verwendet werden, aber es ist mit einer gewissen Resistenz zu rechnen. Wir erinnern uns: Es sind nur noch wenige ACh-Rezeptoren frei für neue Bindungen; dementsprechend müssen wir die Dosis erhöhen, um auch die allerletzten Rezeptoren zu erreichen. Die Normaldosis bei Gesunden liegt bei 1mg/kg KG; bei Myasthenie-Patienten kann sie bei bis zu 1,5-2mg/kg KG liegen. Wobei aufgrund der erwartet längeren Wirkzeit die oben aufgeführten Relaxierungsstrategien („gar nicht“ oder „Rocuronium+Sugammadex“) bevorzugter erscheinen.

Nach Verwendung eines Relaxans muss die neuromuskuläre Funktion zum Beispiel über eine Akzeleromyographie oder ein TOF kontinuierlich überwacht werden. Eine postoperative Überwachung auf der Intensivstation wird gefordert[3].

Aufrechterhaltung und weitere Anästhesiestrategien

Zur Aufrechterhaltung der Narkose sollten (ultra-)kurzwirksame Anästhetika verwendet werden wie Propofol, Remifentanil etc., um in der Aufwachphase eine relevante Atemdepression oder gar Aspirationsgefahr möglichst gering zu halten.

Loko-/Regionalanästhesien sollten wann immer möglich bevorzugt werden. Das betrifft zum Beispiel Patientinnen unter der Geburt mit PDAs, oder auch allgemeine Operationen, z.B. in der Unfallchirurgie (Plexusblockaden etc.); problematisch können Interskalenusblockaden sein, weil diese häufig zu einer (unbeabsichtigten) Miterfassung des N. phrenicus führen. Patienten, die sowieso schon grenzwertig atem(in)suffizient durch die Myasthenie sind, kann man damit im schlechtesten Fall „über den Rand“ befördern und hat dann doch wieder eine Vollnarkose „am Hacken“; also Vorsicht!

Die Cholinesterase-Inhibitoren in der Dauermedikation können theoretisch die Wirkzeit von Ester-Lokalanästhetika verlängern, weil sie deren Hydrolyse in vitro hemmen. Da wir in der Regel Amid-LA verwenden, ist das aber eher ein Detail, was im DESAIC gefragt werden könnte 😉

Medikamentenlisten, die eine Myasthenie exazerbieren lassen können stehen zur freien Verfügung: www.dgn.de oder www.myasthenia.org)

 

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

1 Kommentar

    • Konrad Buchli auf 17. April 2024 bei 15:08
    • Antworten

    Sehr geehrte Damen und Herren.

    Ich leide an Myasthenia Gravis, welche aber sehr gut mit der Einnahme von Imurek 50 mg 3xtäglich funktioniert.
    Nächstens werde ich eine Koloskopie durchführen lassen. Mir wird ein Schlafmittel verabreicht.
    Was ist in Bezug auf die Sedierung zu beachten?

    Besten Dank für Ihre Antwort

    K. Buchli

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