„Happy Hypoxia“ – Lachend in den Abgrund

 

Während der Covid-Pandemie ist es uns Primärversorgern sicher allen schon passiert. Aufnahme eines Patienten auf die Intensivstation, wegen „schlechten pO2“s. Patient wird vorgefahren, und es geht ihm subjektiv super. „Haben Sie Luftnot?“ – „Nö.“, und daddelt mit dem Handy.

Klinisch einzig zu sehen ist eine deutlich erhöhte Atemfrequenz mit 20-30/min, ansonsten nichts. Sobald aber das Pulsoxymeter angeschraubt wird, folgt der Schreck: Sauerstoffsättigungen jenseits von Gut und Böse, durchaus auch im Bereich bis 50%, und der Patient merkt davon nichts. Dasselbe Spiel bei der ersten Blutgasanalyse: pO2-Werte unter 60mmHg waren keine Seltenheit.

Völlig verrückt. Eigentlich sollte so etwas doch massive Luftnot verursachen?

Let’s Begin: Physiology!

Wie immer in solchen Beiträgen müssen wir mit der Physiologie beginnen.

Es gibt 3 Atemtrigger:

  • CO2 über die Hyperkapnie
  • O2 über die Hypoxie
  • pH über eine Azidose

Ob jetzt das CO2 oder das O2 der stärkste Trigger ist, da sind sich die Lehrbücher scheinbar nicht ganz einig. Beim CO2 verläuft die Beziehung „steigendes CO2 zu Minutenvolumen“ über weite Strecken relativ linear, wohingegen sie beim O2 lange Zeit sehr statisch verläuft, bevor sie unterhalb einer individuellen Hypoxiegrenze (in der Regel < 40mmHg paO2[1]) schlagartig ansteigt (über eine Erhöhung von Tidalvolumen und Atemfrequenz).

Zum Thema Atemantrieb im Zusammenhang mit COPD hatte ich auch schonmal einen Beitrag geschrieben, und auf BOA gibt es auch einen schönen Beitrag, der da noch mal tiefer einsteigt.

Die Definition von Dyspnoe, die wir ja erwarten würden bei massiver Hypoxie, lautet:

„Dyspnoe ist ein Begriff für die Beschreibung der subjektiven Wahrnehmung von Atembeschwerden, die sich zusammensetzt aus qualitativ verschiedenen Empfindungen unterschiedlicher Intensität. Die Wahrnehmung hängt ab von Interaktionen zwischen verschiedenen physiologischen, psychologischen, sozialen und Umgebungsfaktoren und kann zu sekundären physiologischen Antworten und Verhaltensänderungen führen.“

(American Thoracic Society)

Wieder eine Skala…

Wie immer gibt es natürlich auch in diesem Fall eine Skala, die zur Bestimmung der Schwere genutzt werden kann: Die modified Medical Research Council -Scale. Sie wird aber vor allem bei COPD-Patienten nach der GOLD-Leitlinie eingesetzt.

  • 0: Dyspnoe nur bei schweren Anstrengungen
  • I: Dyspnoe bei schnellem Gehen oder bei leichten Anstiegen
  • II: Langsameres Gehen als Gleichaltrige aufgrund von Dyspnoe oder Stehenbleiben bei normalem Schritttempo
  • III: Dyspnoe bei einer Gehstrecke von etwa 100m
  • IV: Dyspnoe beim An- oder Ausziehen. Das Verlassen des Hauses ist nicht möglich

Unsere Covid-Patienten haben aber subjektiv überhaupt keine Dyspnoe. Erst bei Belastung merken sie, dass „etwas nicht stimmt“.

Guan sah in einer Studie an 1099 hospitalisierten COVID-19 Patienten nur 18,7% mit Dyspnoe, trotz niedriger Horowitz-Quotienten, abnormer CTs oder allgemeinem Sauerstofftherapiebedarf [3]. Als Einschub muss noch gesagt werden, dass auch andere Krankheitsbilder nicht immer zwangsläufig mit Dyspnoe einher gehen: Atelektasen, intrapulmonale Shunts, oder kardiale Rechts-Links-Shunts.

Wie entsteht Dyspnoe?

Aber wie merkt ein Patient, dass er gerade Luftnot haben sollte? Dafür sind Hyperkapnie und Hypoxie nur einzelne Bausteine. Genauso wichtig ist die Atemarbeit, die sich aus Muskelstatus, Atemwegswiderständen und Totraumventilation ergibt. Außerdem gibt es noch Dehnungsrezeptoren in der Lunge. Alle diese Rezeptoren berichten an den Hirnstamm, der wiederum an übergeordnete Zentren weiterleitet (Hypothalamus, Amygdala, basales Frontalhirn). Subjektive Luftnot vom Großhirn zurück gespiegelt (z.B. wegen Angst) ist ebenfalls ein Faktor, der da reinspielt.

Wie im Fallbeispiel oben schon angedeutet, muss zwischen Dyspnoe und weiteren Störungen der Atemmechanik unterschieden werden, zum Beispiel der Frequenz  oder der Tiefe (Tachy- oder Hyperpnoe). Die Steigerung des Minutenvolumens bei Hypoxie ist das deutlichste Zeichen eines drohenden Atemversagens. Dyspnoe ist kein Indikator dafür[2].

In der Anfangsphase von COVID-19 geschehen ein paar Mechanismen gleichzeitig, die zu einer Hypoxie führen, ohne dass der Atemantrieb (und die -arbeit) überhaupt gesteigert wird. Das führt häufig zu einer rapiden Verschlechterung der Patienten „hinten raus“:

  • intrapulmonales Shunting (Ödeme und Atelektasen)
  • Verlust der Regulation der Lungenperfusion
  • intravaskuläre Mikrothromben, endothelialer Schaden

Weitere Mechanismen, CAVE!

Die Sauerstoffbindungskurve ist ein alter Bekannter der Anästhesisten, und auch in diesem Fall von Interesse. Durch das sich im Verlauf steigernde Minutenvolumen aufgrund der Hypoxie kommt es zu einer Hypokapnie und damit einer Linksverschiebung der Kurve (auf Schlau: respiratorische Alkalose). In der Alkalose ist Hämoglobin affiner zu Sauerstoff, als das bei normalen pH-Werten der Fall wäre. Über die SpO2 messen wird aber an Hämoglobin-gebundenen Sauerstoff. Das kann erklären, warum zwar die SpO2 „gut gemessen“ wird, aber das pO2 dennoch massiv erniedrigt ist. Die Messung sollte nur in Zusammenhang mit den anderen Messwerten (v.a. BGA) interpretiert werden.

Liu et al. stellten darüber hinaus die Theorie auf, dass das Virus direkt mit dem Häm des Hämoglobins interagiert und die Serum Fe3+ -Spiegel erhöht, was zu Inflammation und Zelltod führen kann[4].

Das oben genannte intrapulmonale Shunting mit resultierendem V/Q-Mismatch ist eine der Hauptursachen der Hypoxämie bei Covid-Infektionen. Durch das interstitielle Ödem, einen Verlust von Surfactant und folgend alveolären Kollaps wird ein beträchtlicher Teil des zu oxygenierenden Blutes durch nicht-ventilierte Bereiche gepumpt. Die Atemarbeit erhöht sich deshalb im Verlauf der Erkrankung, und damit auch der intrathorakale (inspiratorische) Druck. Resultat: der Lungenschaden nimmt noch weiter zu (SILI: Self-inflicted Lung Injury).

Hypoxämie vor dem Verlust der Mechanik

Durch die vorgenannten Mechanismen kommt es aber insgesamt früher zu einer Hypoxämie als zu einem Verlust der Lungenmechanik. Meist klingt die Auskultation auch erst mal völlig unauffällig, solange keine Superinfektion vorliegt. Das täuscht aber über das wahre Ausmaß des Lungenschadens hinweg.

Die Lungen von ansonsten gesunden Patienten haben in der Regel große Reserven was ihre Compliance angeht. Die Totraumventilation ist in den ersten Tagen der Infektion auch nicht erhöht. Deshalb ist die Atemarbeit an sich erst mal gar nicht dramatisch erhöht. Das würde erklären, warum es eher spät zu einer Dyspnoe kommt. Das darf aber in Anwesenheit von Tachy- und Hyperpnoe sowie schlechten pO2 und SpO2 nicht über den kritischen Zustand des Patienten hinwegtäuschen, der sich rapide verschlechtern kann.

Eine Neuroinvasion und gegebenenfalls Inflammation (Stichwort Geruchsverlust) könnte auch bei der Wahrnehmung von Sauerstoffmangel eine Rolle spielen, aber das bleibt auf diesem Blog hier erst mal Spekulation.

„Happy Hypoxic“ >> lieber: “Silent Hypoxic“

Die Bezeichnung „Happy Hypoxic“ ist insofern bagatellisierend, weil die tatsächliche Hypoxie profund und bedrohlich ist. Deshalb wird empfohlen, den beschriebenen Symptomenkomplex lieber „Silent Hypoxia“ zu nennen. Dem kann ich mich nur anschließen.

 

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Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

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