Die echten Pocken – Variola major

 

Da gerade die Affenpocken-Manie umgeht („Facharztprüfung oder doch lieber Affenpocken vortäuschen??“), möchte ich mich zunächst mit den echten Pocken beschäftigen. Das ist letztlich eine Erfolgsgeschichte der modernen Medizin, aus der man sicher auch noch das ein oder andere lernen kann.

Einige Faktoren waren aber zum Beispiel im Vergleich zu Covid-19 anders, was die Eradikation deutlich vereinfachte. Dazu aber später mehr.

Pocken, oder „Blattern“ werden schon seit der Antike berichtet (in Asien um das 1. Jahrhundert n. Chr., in Europa und Afrika seit dem 7. Jahrhundert). Sie werden vom Pockenvirus Variola major oder Orthopox variolae) ausgelöst. Es gibt auch andere Virusstränge, über die weiter unten berichtet wird.

Es ist ein DNA-Virus aus der Klasse der Poxviridae. Es ist recht komplex aufgebaut mit einer Außenhülle, zwei Lateralkörpern und einem hantelförmigen Kern mit einer einzelnen doppelsträngigen DNA.

cdc.gov/smallpox

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Pocken Flowchart 3.71 MB 1401 Downloads

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Ätiologie, Übertragung und Geschichte

Die Inzidenz lag bis in die 50er Jahre bei etwa 5 pro 100.000 Einwohnern Afrikas (das ist also eine völlig andere Hausnummer, als SARS-CoV-2). Allerdings lag die Letalitätsrate bei Ungeimpften auch bei 30-50%. Das ist ein Brett.

Die Übertragung fand vor allem nach intensivem körpernahem Kontakt statt über Speichel und auch Schmierinfektionen z.B. über genutzte Bettwäsche. So war vor allem Krankenhauspersonal hochgradig gefährdet.

Der letzte auf natürlichem Wege infizierte Patient war Ali Maow Maalin in Somalia im Oktober 1977. Allerdings gab es 1978 noch einen Laborunfall in Birmingham, bei dem der letzte bekannte Pocken- und Todesfall beschrieben wurde. Es handelte sich um die Fotografin Janet Parker, die ihr Studio über einem Labor hatte, das mit Pocken arbeitete. Vermutlich über den Aerosolweg und die interne Lüftung im Gebäude wurde sie infiziert und starb – trotz Impfung!

Impfpflicht  gar kein Problem

Apropos Impfung: Eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland bestand seit 1874 mit einem Schema, das eine Erstimpfung im Alter bis 2 Jahre und dann eine Auffrischimpfung im Alter von 12 Jahren vorsah. Erst 1974 wurde die Pflicht aufgehoben, und die Pocken 1980 offiziell für ausgerottet erklärt.

Aufgrund der hohen Letalität und weltweiten Verbreitung (und der Autokratie „Kaiserreich“ als Staatsform natürlich) konnte damals eine allgemeine Impfpflicht installiert werden. Sicherlich sinnvoll. Aber natürlich trotzdem andere Bedingungen, als die in der Bundesrepublik zu SARS-CoV-2, na gut.

Replikationszyklus unter dem Mikroskop

Aufnahme von infizierten Viruspartikeln, zum Beispiel über den Speichel oder tief inhalierte Aerosole. Durch Makrophagen Transport in die regionalen Lymphknoten. Dort dann die erste Replikationsphase und Virämie. Danach wurden vor allem die Lymphorgane befallen, z.B. Milz, Leber, Niere, und auch Knochenmark und Lunge. In dieser Inkubationsphase (10-12 Tage) war der Patient asymptomatisch und auch nicht ansteckend.

Vaccinia, Heike C. Ewert

In einer zweiten Virämiephase, nachdem die ersten Zellen aufgrund der Viruslast zerstört wurden, wurden dann die Haut und Schleimhäute, initial im Oropharynx befallen. Die Endothelien und Epithelien schwollen an und degenerierten folgend. Mikroskopisch sah man typische Guarnieri-Körperchen.

Diese Pathogenese wurde begleitet mit der typischen Symptomatik: Schlagartig schweres Krankheitsgefühl, hohes Fieber (bis 40°C), schwere Kopf-, Rücken und Gliederschmerzen, sowie Übelkeit und selten Durchfälle. Das Enanthem begann und wurde 24 Stunden später von dem typischen Exanthem gefolgt. Die Sequenz war typisch: Makula, Papula, Vesicula, Pustula, Crusta.

Die Ausbreitung des Exanthems begann im Gesicht und breitete sich zentrifugal über den Körperstamm auf die Extremitäten aus.

Zu beachten ist (und das gilt auch für die Affenpocken übrigens), dass sich alle Effloreszenzen im selben Stadium befanden.

Differentialdiagnosen: Windpocken, Affenpocken

Die Haupt-Differentialdiagnose waren an dieser Stelle die Windpocken, die aber hinsichtlich ihrer Effloreszenzen ein „buntes Bild“ (=nebeneinander verschiedener Stadien) zeigten.  Eine andere Möglichkeit der Differentialdiagnose war der Befall von Handinnen- und fußflächen, der bei den Windpocken charakteristischerweise fehlt.

In der Rekonvaleszenz (wenn die Krankheit überlebt wurde, v.a. aufgrund der pulmonalen Beteiligung) fielen die Krusten ab und hinterließen typischerweise Narben, häufig im Gesicht.

Die Kontagiosität ist ein wichtiger Punkt an dieser Stelle: Es gab keine asymptomatischen Verläufe. Und nur Patienten, die symptomatisch waren, konnten auch übertragen. Eine unbeobachtete / asymptomatische Übertragung war nicht möglich. Hätten wir das nur bei Covid gehabt… Der Zeitpunkt der Kontagiosität begann mit den Effloreszenzen und endete bei Abfallen der letzten Hautschuppen.

Klassifikation nach Effloreszenzen und Letalität

Man konnte aufgrund der Verteilung der Effloreszenzen weitere Subtypen des Krankheitsverlaufs klassifizieren:

  • Ordinärer Typus (wie oben beschrieben, ~70% aller Fälle)
    weitere Unterscheidung aufgrund des Exanthemmusters möglich:
    – konfluierende Beteiligung von Gesicht und Unterarm: 62% Letalität
    – semikonfluierende Beteiligung: 37%
    – diskrete Effloreszenzen: 9%
  • Modifizierter Typ, wie der ordinäre Typ, allerdings schnellerer Verlauf und kleinere Pusteln; v.a. bei geimpften Patienten beobachtet
  • Flacher Typ: flache Pusteln, v.a. bei Kindern beobachtet und häufig letal
  • Hämorrhagischer Typ: Selten; die Eruptionen wurden zusätzlich zum oben beschriebenen Bild hämorrhagisch; Herzversagen, diffuse Blutungen und Knochenmarksuppression führten zum Tode innerhalb von 3-4 Tagen
  • Variola sine eruptione : Trat v.a. bei geimpften Individuen auf (irgendwie logisch); Sie hatten Fieber, aber keinen Ausschlag.

Komplikationen zur an sich schon bedrohlichen Krankheit beinhaltete bakterielle Superinfektionen, Keratitis und korneale Ulzerationen (Blindheit!), Arthritis, Osteomyelitis, Enzephalitis.

Warum sollte ich aber an dieser Stelle überhaupt weitermachen? Nun – Pockenviren gibt es immer noch, in Biolaboren des CDC in Atlanta und in Russland in Kolzowo (Labor VECTOR). Zumindest offiziell natürlich. Es ist denkbar, und das wird immer mal wieder befürchtet, dass sie als Biowaffen im Rahmen von terroristischen Anschlägen oder Kriegen verwendet werden.

Was machen bei Pockenverdacht?

Seit der Eradikation in der Wildbahn 1979 hat aber kein normaler Mensch mehr das typische Krankheitsbild „in natura“ gesehen. Deshalb hat das amerikanische CDC  ein Flowchart herausgebracht, mit dem man auf die Idee kommen könnte, dass es sich bei einem Fall mit Pockenartigen Effloreszenzen um Pocken handelt.

Der Nachweis der Viren ist indes heutzutage einfach, wenn man natürlich explizit darauf testet: PCR, oder direkte Virusisolation aus Pusteln im Oropharynx-Bereich, Konjunktiva oder Urin. Eine Serologie ist indes nicht beweisend. Das RKI führt im Übrigen solche Testungen durch.

Die Differentialdiagnose zu den Affenpocken gestaltet sich schwierig. Generell erscheinen Patienten mit Affenpocken weniger stark krank (wenn man nicht gerade einen Vergleichspatienten daneben liegen hat – schwierig zu bestimmen). Allerdings befallen die Affenpocken auch vor allem cervikale und inguinale Lymphknoten.

Jenner und die Impfung

Edward Jenner gilt als der Wegebereiter für die moderne Pockenimpfung, wobei das nicht völlig korrekt ist.

Er baute auf die Vorarbeiten von Sutton auf (das ist ein englischer Landarzt). Dessen Kollege John Fewster hatte im Rahmen dieser Untersuchungen entdeckt, dass Menschen, die mit Kuhpocken infiziert gewesen waren, gar nicht oder deutlich geringer an den echten Pocken erkrankten.

Jenner machte den folgerichtigen Schritt, und inokulierte, d.h. infizierte Patienten bewusst mit den Pocken aus Kühen, um einen Impfschutz herzustellen. Er war also der letzte in einer Reihe von Wissenschaftlern. Aber erst er fügte die Informationen zu einer nutzbaren Sache zusammen.

Bei den verwendeten Viren handelte es sich aber nicht, wie man annehmen könnte, um die „Kuhpocken“, sondern um den weniger virulenten Stamm Variola vaccinia (wie passend, der Name  ), der zufällig auch bei Kühen vorkam.

Das zugrundeliegende Experiment ist krass: Zuerst inokulierte Jenner beim 8-jährigen James Philipps die Vakzin-Pocken und in der Folge dann, um den Wirksamkeitsbeweis zu erbringen, die echten Pocken. Ein klassisches Menschenexperiment. Gut, dass das gut gegangen ist. Andere Zeiten, andere Sitten… Und da die britische Royal Society seine Beobachtung ablehnte, schob er ein Experiment mit seinem eigenen 11-jährigen Sohn nach. Krasser Typ. Beide Kinder haben überlebt.

Eine Impfung mit Vaccinia-Viren führt zu einer drastisch reduzierten Transmission (4% bei Geimpften vs. >96% bei Ungeimpften). Die Letalität sinkt bei Geimpften Personen auch auf ~4%. Immer noch nicht super, aber deutlich besser, als die 30-50%!

Der Impfschutz ist langanhaltend, man geht von lebenslanger Immunität aus, auch wenn sie mit zunehmender Zeit schwächer wird (s. den Verlauf und Tod von Janet Parker). Vermittelt wird die Immunität durch eine Mischung von zytotoxischen T-Zellen und Antikörpern (gerade die T-Zellen kennen wir ja auch wieder von unserem „Freund“, dem SARS-Cov-2).

Dass das gewonnen Impfvirus aus der Kuh isoliert wurde, spiegelt sich auch in den Wortstämmen wider: vacca = Kuh. Und Vakzin heißt heute allgemein Impfstoff. Verrückt.

Therapie und Ausblick

Die Behandlung der Pocken ist vor allem supportiv, wie leider bei vielen Viruserkrankungen. Das betrifft den Wasser- und Elektrolythaushalt, atemunterstützende Maßnahmen etc.; man könnte sagen: Intensivtherapie-Standard.

Antivirale Mittel sind vorhanden, aber nicht in der Apotheke nebenan bestellbar

  • Tecoviramat (Zulassung für Pocken 2018); bisher nicht am Menschen auf Effektivität getestet (nur Verträglichkeit), lediglich im Tiermodell; zielt auf die Virushülle
  • Brincidofovir (Zulassung 2021)

Immerhin haben sich die Industriestaaten mit Millionen von Impfdosen eingedeckt, für den Fall der Fälle. Entwicklungsländer konnten das naturgemäß nicht, sodass die Reserve der WHO genutzt werden musste. Das würde aber im Zweifel nicht ausreichen und das Virus wieder mit brachialier Gewalt freisetzen. Warum kann man nicht einfach alle restlichen Proben vernichten? Da landen wir wieder im Kalten Krieg USA vs. Russland. Keiner will so eine Waffe aus der Hand geben. Na super.

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Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

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