Spina bifida occulta und Spinalanästhesie

 

In diesem Beitrag widme ich mich einem Themenwunsch, der auf meinem Youtube-Kanal geäußert wurde. Was ist eigentlich mit Spinalanästhesien bei (Z.n.) Spina bifida? Ist das sicher? Muss man etwas beachten?

In der Literatur ist das Thema – ich denke verständlicherweise – recht wenig vertreten. Das Ding ist ja folgendes: Warum sollte ich in eine Stelle stechen, bei der bekannterweise „etwas“ pathologisch war und sogar operiert wurde? Warum etwaige neurologische Komplikationen riskieren, wenn ich völlig sicher eine Vollnarkose durchführen kann?

Wenn man den lokalen Befund niemals angefasst hat, kann man auch nicht für neurologische Komplikationen der Grunderkrankung verantwortlich sein (sic!)

Und ich bin der Überzeugung, dass das Standard-Prozedere sein sollte. Wie wir sehen werden, ist „Spina bifida“ aber komplexer, als man das so aus den Lehrbüchern an der Uni kennt. Es kann sein, dass man auf einmal doch unerwartet direkt ins Rückenmark sticht und/oder injiziert. Was bei peripheren Nerven schon schlecht ist, ist beim Rückenmark fatal… Also warum so etwas riskieren?

Die Antwort ist schlicht und ergreifend: In manchen seltenen Fällen kann eine Vollnarkose durchaus Probleme machen: Delir bei älteren Menschen, kardiovaskuläre Folgen (wobei das im Vergleich relativ ist), schweres Weaning bei hochgradiger Funktionseinschränkung der Lungen oder eben auch eine schwierige Intubation, die man gerne vermeiden möchte.

Trotzdem noch mal der Hinweis: Alle o.g. Erwägungen sind wirkliche Randphänomene, wo man vielleicht lieber keine Vollnarkose machen möchte. Meistens lässt sie sich doch trotzdem relativ sicher durchführen.

Was ist eine Spina BIFI?

Was ist denn jetzt eine Spina bifida? Es handelt sich grob gesagt um eine embryonale Fehlentwicklung, die bereits während des 22.-28. Tages der embryonalen Entwicklung passiert. Das Neuralrohr entwickelt sich aus der Neuralplatte und sollte sich folgend verschließen. Wenn es das nicht tut, bleibt eine Stelle offen. Das ist meist im lumbalen Bereich, kann aber auch thorakal oder sogar zervikal auftreten. Die Inzidenz beträgt in Europa 1:1000, und Mädchen sind etwas häufiger betroffen als Jungs.

Die Ausprägung kann klassifiziert werden (natürlich ;P ).

Die offene Spina bifida

Spina bifida aperta bedeutet, dass der Wirbelbogen dorsal nicht verschlossen ist, und sich zusätzlich ein Bruchsack nach außen wölbt:

  • Meningozele: Nur Dura mater ist betroffen, das Rückenmark verläuft normal durch den restlichen Wirbelkanal
  • Myelomeningozele: Ein Durasack mit enthaltenem Rückenmark ist ausgestülpt, und natürlich Druck- und Zugebelastet
  • Myeloschisis: Maximalform; Das Nervengewebe ist völlig frei sichtbar und von keiner Membran o.ä. mehr bedeckt

Da die Aperta-Form zu heftigen neurologischen Symptomen führt (Plegien bis Querschnittslähmung, Blasenentleerungsstörungen etc.), wird sie frühkindlich, d.h. in den ersten Lebenstagen operiert. Manche Kollegen versuchen das auch bereits in utero; das hat sich aber noch nicht ernsthaft etabliert, nach dem, was ich so herausgefunden habe.

Die Punktionsverhältnisse können unerwartet sein

Wenn ein Patient eine operierte Spina bifida aperta hatte, kann es sein, dass die anatomischen Verhältnisse, die ja dummerweise häufig auf Höhe unserer Punktionsstelle lumbal liegen, verändert sind. Es können Anhaftungen der Dura am restlichen Knochen bestehen, Lipome können in der Dura eingelagert sein etc.; Für Punktionen bedeutet das generell:

  • Punktionsverhältnisse sind schwieriger; es liegt keine Lehrbuch-Anatomie vor
  • Periduralanästhesien können nicht, verzögert oder völlig unerwartet wirken; zum einen wegen des Z.n. Fehlbildung und zum anderen natürlich auch wegen der dort stattgefundenen Operation
  • Man würde erwarten, dass Spinalanästhesien völlig normal funktionieren sollten
  • Es scheint allerdings ein erhöhtes Risiko für spinale Hämatome zu bestehen, lt. AWMF-Leitlinie[4]

(ob man das dann verantworten möchte, liegt in der Nutzen-Risiko-Abwägung des behandelnden Facharztes; meiner Erfahrung nach würde man sich im Regelfall meist gegen die RM-nahe Betäubung entscheiden, wegen „forensischer Gründe“, s.o.)

Zu diesem Themenkomplex gibt es auch einen Artikel aus dem Anästhesisten, der sich allerdings nur mit Spinalanästhesien bei neurologischen Erkrankungen beschäftigt: Sinner 2010. Er kommt aber im Prinzip zu denselben Schlüssen wir oben aufgeführt.

Die „versteckte“ Spina bifida…

Es gibt nun aber auch eine radiologische Zufallsdiagnose, die sich Spina bifida occulta nennt. Dabei ist „einfach nur“ die äußerste Lamina des Wirbelkanals nicht komplett geschlossen. Das betrifft bis zu 20% aller Patienten[1]. Bei dieser Fehlbildung kommt es auch nicht direkt zu offensichtlichen neurologischen Ausfällen. Deshalb wird vermutlich eine hohe Dunkelziffer an Patienten mit rückenmarknahen Verfahren versorgt, ohne dass die Behandler das überhaupt wissen. Lucky you.

Das Problem ist nicht der unvollständig geschlossene Wirbelkanal. Im Zweifel kommt man einfacher mit der Nadel durch und von der Wirkung her würde man auch keine Probleme erwarten.

Aber.

Dann gibt es die Patienten, die weitere (relevante!) Fehlformationen haben. Wir sprechen hier von intraspinalen Lipomen, Dermalsinus, Dermoidzysten, Diastematomyelie (Aufteilung des Rückenmarks – verrückt!), sowie einem Tethered Cord. Von diesem sind einer Schätzung zufolge 35-87% betroffen[2,3].

Dieses Tethered Cord – angeheftetes Mark oder so ähnlich auf Deutsch – bezeichnet ein im Sakralkanal angeheftetes Rückenmark aufgrund narbiger Veränderungen, das Zug auf das Rückenmark ausübt. In der Folge sitzt der Konus medullaris auf einmal nicht mehr auf Höhe L2-3, sondern tiefer! Durchaus auch auf Höhe unsere Punktionsstelle für die Spinalanästhesie. Mist.

Glücklicherweise zeigen wenigstens 50% der Patienten mit Tethered Cord wiederum kutane Manifestationen wie Haarwuchs über der Defektstelle, Hyperpigmentationen, Hämangiome oder Hypo-/Hyperpigmentationen.

Aufgrund der Markfixation entwickeln sich meist in früher Kindheit schon neurologische Symptome, was die Regel, aber nicht alle Fälle betrifft. Niemals zu sicher fühlen – wir sind hier in der Medizin 😉

Zusammenfassung

Grundsätzlich kann man folgendes sagen:

Spina bifida aperta: Wenn sie operativ versorgt wurde, kann man rückenmarknahe Verfahren nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung planen. Es scheint aber ein erhöhtes Risiko für spinale Hämatome und im Zweifel eine katastrophale Komplikation (Querschnittslähmung) zu bestehen. Epiduralanalgesien können aufgrund der veränderten Anatomie unerwartet wirken. Punktionsverhältnisse können schwierig sein.

Spina bifida occulta: Von außen ist sie nicht zu erkennen und hat selten neurologische Symptome zur Folge. In 20% der Fälle ist sie aber mit einem Tethered Cord vergesellschaftet, das wiederum zu einem Dorsalzug des Rückenmarks führt und eventuell den Konus medullaris auf unsere SpA-Punktionshöhe zieht! Gefährlich! Immerhin gibt es in 50% der Fälle kutane Warnhinweise wie auffällige Pigmentation, Behaarung etc. (s.o.); dann lieber nicht reinpieken und doch die Vollnarkose wählen!

 

Links:

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

1 Kommentar

    • Nicola Ruben auf 28. Januar 2022 bei 10:00
    • Antworten

    Meines Wissen wird an der Uni Zürich sehr erfolgreich intrauterin eine spina bifida operiert.
    Beste Grüsse und danke für die tollen Berichte

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