Kaltwasserunfälle – Physiologie und Überlebensstrategien

 

Das Eintauchen eines menschlichen Körpers in Wasser ist mit einer Reihe von physiologischen Reaktionen darauf verbunden. Es ist egal, ob es sich dabei um einen Unfall auf hoher See oder im Schwimmbad handelt.

Begriffe: Immersion ist das Eintauchen des Körpers in Wasser, Submersion das Untertauchen des Kopfes (und dabei ist es sogar egal, ob der Körper auch im Wasser steckt, oder noch trocken ist).

Die größte Gefahr, die landläufig für die Immersion angenommen wird, ist die Hypothermie mit folgender Bradykardie, Kammerflimmern und Arrest. Aber tatsächlich muss man überhaupt erst mal lang genug überleben, um das noch zu erleben. Die Wichtigkeit der Hypothermie als Todesursache von Wasserunfällen wird von Profis deutlich überschätzt: 72% der Befragten in einer Studie von Giesbrecht et al. [1] dachten, dass eine Person in Winterkleidung, die in kaltes Wasser fällt, innerhalb von 10 Minuten an Hypothermie verstirbt. Tatsächlich kann auch so jemand – Schwimmweste oder andere Schwimmhilfen vorausgesetzt (Personal flotation devices) durchaus bis zu einer Stunde überleben! Das folgt im Artikel weiter unten.

Hypothermie ist doch ein alter Hut – oder?

Physiologisch wissen wir Anästhesisten natürlich einiges über die Hypothermie: der Zellmetabolismus wird reduziert, die Funktion von neuronaler Übertragung und Kontrolle nimmt langsam ab.

Eine plötzliche Immersion führt zu einer rapiden Abnahme der Hauttemperatur, die wiederum Shivering als Gegenregulation auslöst mit dem Ziel der Thermogenese. Metabolismus, Atemfrequenz und Ventilation, Herzfrequenz, Cardiac Output und MAP steigen an. Der Körper hat physiologischen Stress. Aber natürlich nicht nur physiologischen, sondern auch psychologischen Stress, denn: Die meisten Menschen denken, dass sie die nächsten Minuten definitiv nicht überleben werden, Stichwort PANIK!

Je weiter die Körperkerntemperatur abnimmt, desto mehr wird gedämpft: Das Shivering nimmt ab, Herzfrequenz, Cardiac Output sinken; Hämatokrit und TPR steigen an.

Was ist „kalt“?

Aber was ist überhaupt kaltes Wasser? Eine einheitliche Definition dafür existiert leider nicht. Es bietet sich aber an, „neutral-warm“ als Wassertemperatur zu begreifen, bei der der menschliche Körper keine Wärme an seine Umgebung abgibt, während er nackt dort treibt. Das wäre bei einer Temperatur der Fall, die in etwa der Körpertemperatur eines normalen Menschen entspricht: 33-35°C[2]. Hypothermie geschieht über eine konduktive Wärmeübertragung an kälteres Wasser (von warm nach kalt, kennen wir aus dem OP).

In der Literatur wird typischerweise gesagt, dass das Risiko für eine Hypothermie ab Wassertemperaturen unterhalb von 25°C beginnt[3] und signifikant unterhalb von 15°C sehr wahrscheinlich wird.

Todesfälle im Zusammenhang mit Kaltwasserimmersion können in insgesamt 4 Phasen stattfinden. Mit ein wenig Ahnung und am besten natürlich Training (wie immer), kann aber auch signifikant dagegen angekämpft werden.

Immer ist auch das Risiko des Ertrinkens dabei, auch wenn das hier etwas ausgeklammert werden wird. Wenn jemand durch Hypothermie motorisch nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist, kann er natürlich auch leichter ertrinken, von Wellengang ganz zu schweigen.

Phasen des Kaltwasserunfalls

  1. Immersion und Kälteschock
  2. kurzfristige Immersion mit Fähigkeitsverlust
  3. langfristige Immersion mit Hypothermie
  4. Kollaps um den Rettungszeitpunkt herum

Phase 1: Kälteschock (Minute 0 bis 2)

Wenn ein Mensch schlagartig kaltem Wasser ausgesetzt wird (a.e. ab Temperaturen unter 20°C), wird der Körper erst einmal geschockt: Typischerweise kommt es zu einem „nach Luft schnappen“, begleitet von einer Unfähigkeit, den Atem zu kontrollieren oder anzuhalten. Es folgt Hyperventilation und maximaler Stress, sowohl physiologisch als auch psychologisch. Bei länger andauernder Hyperventilation folgen die bekannten Symptome Schwäche, Kribbelparästhesien, Reduktion der motorischen Kontrolle.

Alle diese Faktoren können in sehr kurzer Zeit zu Wasseraspiration und Ertrinken führen, auch wenn der Kopf initial gar nicht unter Wasser gekommen ist. Es ist daher von äußerster Wichtigkeit, die Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Die schlagartige Vasokonstriktion der kutanen Gefäße führt zu einer Erhöhung des TPR und damit der Belastung fürs Myokard. Arrhythmien einschließlich eines Kammerflimmerns können auftreten.

Ein schrittweiser Eintritt in kaltes Wasser kann die beschriebenen Effekte reduzieren.

Niemals sollte man in kaltes Wasser tauchen (reinspringen).

Phase 2: Fähigkeitsverlust durch Kälte

Die Kühlung hat direkt einen negativen Einfluss auf die periphere neuromuskuläre Aktivität[4]. Das betrifft besonders die Hände mit Steifheit der Finger. Die Folge ist ein Verlust der Fein- und Grobmotorik (Stichwort: Rettungsseil greifen!).

Wenn ein Entkommen aus dem kalten Wasser nicht möglich ist, sollte die HELP-Position eingenommen werden (heat escape lessening position): Arme gegen die Brust und die Beine gegeneinander pressen.

Phase 3: Beginn der Hypothermie

Wahre Hypothermie wird erst nach 30 bis 60 Minuten im kalten Wasser zu einem echten Thema. Die meisten Todesfälle vorher entstehen durch Ertrinken aufgrund der oben genannten Mechanismen. Vorausgesetzt, es wird ein PFD wie eine Schwimmweste getragen, wird man a.e. auch nicht ertrinken, wenn man aufgrund der Hypothermie bewusstlos wird. Wichtige Voraussetzung: Der Kopf bleibt über Wasser!

Nota bene: Das 1-10-1 Prinzip nach Sturz in kaltes Wasser:

  • 1 Minute Zeit, um die eigene Atmung unter Kontrolle zu bringen
  • 10 Minuten Zeit, eine Eigenrettung vorzunehmen mit entscheidenden Bewegungen
  • Bis zu 1 Stunde Zeit, bis die Bewusstlosigkeit aufgrund von Hypothermie eintritt. Mit einer Schwimmweste eventuell eine weitere Stunde Zeit, bis es zum Arrest kommt.

Um es bis hierher zusammenzufassen: Der Kälteschock in Phase 1 ist das Risiko schlechthin, am Kaltwasserunfall zu sterben! Die Beruhigung der Atmung ist überragend wichtig!

Phase 4: Peri-Rettungs-Kollaps

Todesfälle wurden kurz vor der Rettung, während des Rettungsvorgangs und auch bis zu 20-90 Minuten nach der Rettung beobachtet. Allein schon die Lageveränderung des Patienten, der von einer horizontalen in eine vertikale Lage gebracht wird, während er aus dem Wasser gezogen wird, kann zu Volumenverschiebungen führen, die Kammerflimmern oder einen Arrest auslösen.

Der Afterdrop wird in der Literatur an dieser Stelle immer gerne genannt. Es geht um einen weiteren Temperaturabfall der Körperkerntemperatur nach der Rettung von bis zu 5-6°C[6]. Golden et al. hingegen gestehen diesem Phänomen nicht eine so große Bedeutung zu, sondern eher einen plötzlichen Verlust von arteriellem Druck, denn: auf einmal ist der Wasserdruck von außen weg, wenn der Patient das Wasser verlässt; dadurch demaskiert sich evtl. eine Hypovolämie. Der Abfall von Katecholaminen (Entspannung nach der Rettung) ist ein weiterer Erklärungsansatz. Wenn also plötzlich der Blutdruck fällt, der koronare Blutfluss fällt, kann es natürlich zu kardialen Ischämien kommen, die ein Kammerflimmern begünstigen. Und natürlich ist es im rettenden Gefährt auch warm, und im Wasser war es kalt, sprich: Vasodilatation.

Bis zu 20% von geretteten Personen sterben an solchen Komplikationen im Rettungssetting.

Auf dieser Note zu enden, ist vielleicht etwas deprimierend, aber im nächsten Beitrag gibt’s dann noch mehr zum Thema Immersion. Es bleibt spannend!

 

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Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

1 Kommentar

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  1. Super, schöner und informeller Beitrag

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