Opiat-Spar-Narkosen – oder gar „-frei“?

 

Zum Thema Opiate und deren Verwendung bei Narkosen, für- und wider, hatte ich schon mal einen Beitrag auf diesem Blog geschrieben: Narkose ohne Opiate?! Im Artikel, auf den ich dort Bezug nehme, wird eine amerikanische Oberärztin für Anästhesie zitiert, die Narkosen nur noch strikt ohne Opiate durchführt. Wegen der Opiat-Krise in Amerika. Zigtausenden Toten im häuslichen Umfeld aufgrund von Opiat-Abhängigkeit und -Missbrauch; ursächlich zu finden aber meiner Meinung nach im Krankenhaus-Entlass-Miss-Management.

Denn viele Patienten werden mit Opiaten als Dauermedikation entlassen. Möglicherweise liegt das an möglichst kurz angestrebten Liegezeiten, dass Patienten mit Opiat-behandeltem Schmerz schon entlassen werden. Bei uns sollte das doch hoffentlich eher die Ausnahme als die Regel sein.

Die Anästhesisten dort sehen die sich formierende Opiat-Krise, die tatsächlich eine ist (mit > 100.000 Toten pro Jahr!), und suchen die Schuld bei sich selbst in der Narkoseführung. Deshalb haben sich in den letzten Jahren zwei Konzepte heraus kristallisiert: Opiat-reduzierte Anästhesien (ORA) und Opiat-freie Anästhesien (OFA) als Maximalversion.

Opiate: UAWs

Negative Effekte von Opiaten sollten natürlich niemals unter den Tisch gekehrt werden.

Frühe Effekte sind uns allen bekannt und sind direkte Reaktionen auf die Opiat-Rezeptor-Aktivierung: Übelkeit, Erbrechen, Miosis, Obstipation, Atemdepression. Allein diese Nebenwirkungen können zu einer verlängerten Liegezeit, höheren Behandlungskosten und einer erhöhten Wiederaufnahmefrequenz führen[2]. Opiat-induzierte Hyperalgesie und zelluläre Gewöhnungseffekte sind weitere Nebenwirkungen, die man möglichst vermeiden möchte.

Wusstet ihr, dass Morphin über den µ-Rezeptor die endotheliale Angiogenese bei Karzinomen begünstigen kann[3]? Ein Beispiel wäre das Prostata-Karzinom[4]. Auf der anderen Seite wird diskutiert, dass auch ein schlecht kontrollierter (Tumor-)Schmerz zum Progress führen kann. Die Lage ist zwar an dieser Stelle wissenschaftlich interessant, aber bei weitem nicht eindeutig.

Auf jeden Fall kann gesagt werden, dass Opiate nicht nur die „good boys“ sind, sondern durchaus signifikante Nebenwirkungen haben können, die dem Patienten nicht nur Gutes tun.

Opiatreduktion sinnvoll? Verzicht auch?

Aus dieser Erkenntnis heraus gab es in den letzten Jahren zunehmend das Bestreben, Opiate mittels Adjuvanzien zu reduzieren, also einen multimodalen Schmerztherapieansatz zu finden, auch perioperativ und nicht nur bei der Behandlung chronischer Schmerzen.

Mal ganz provokant gefragt: Warum sollte ich überhaupt Opiate in einer Narkose geben? Das Bewusstsein ist doch ausgeschaltet?

– An dieser Stelle sollten wir „Schmerz“ und „Nozizeption“ unterscheiden. Schmerz hat immer eine emotionale, subjektive und bewertende Komponente, Nozizeption ist die rein biologische Aktivierung von Schmerzbahnen, zumeist über den Sympathikus weiterverschaltet im Rückenmark und Hirn.

Eine echte bewusste Schmerzwahrnehmung kann ohne Bewusstsein natürlich nicht stattfinden. Aber die Aktivierung der Schmerzbahnen natürlich trotzdem. Deshalb sehen wir ja auch über die Sympathikus-Antwort als Surrogatmessparameter Veränderungen im kardiovaskulären Bild als Reaktion auf Schmerzreize.

Man könnte sich jetzt auf den Standpunkt stellen, dass eine Bewusstseinsausschaltung automatisch die Schmerzverarbeitung mit-ausschaltet. Darauf baut die OFA – und behandelt deshalb v.a. die Sympathikus-Antwort mit diversen Mittelchen, aber ohne zentral wirkende Opiate.

Aber wissen wir das wirklich so genau, dass jemand in Propofol-Schlaf nicht doch Schmerzen wahrnimmt, wenn auch unterbewusst? Zumal wir bis heute keinen vernünftigen objektiven Test für Schmerzen haben. Ihr erinnert euch: es gibt immer eine bewertende, emotionale Komponente für „Schmerz“. Das lässt sich nicht so einfach messen.

Aus allen diesen Gründen bin ich nach wie vor ein Gegner der komplett Opiat-freien Narkose. Das halte ich für falsch, dafür wissen wir zu wenig von der tatsächlichen Schmerzverschaltung im Hirn während der Narkose.

Intraoperativer Opiat-Gebrauch hat keine negativen Langzeitfolgen

Fakt ist auch: Intraoperativer Opiat-Gebrauch hat keine nachweisbaren negativen Langzeitfolgen[1]. Deshalb ist es zwar sinnvoll, Opiate trotzdem aus einer Reihe von Gründen (gerade wegen der UAWs) zu reduzieren, aber die Ursache der Opiatkrise liegt doch wohl weniger in der Narkoseführung als in der allgemeinen Verschreibungspraxis der amerikanischen Doctores (etwas ähnliches schrieb ich schon im ersten Beitrag).

Aber mit welchen Mitteln kann ich denn zumindest sinnvoll die Opiate reduzieren?

Mittel der ORA / OFA

Mittel der ersten Wahl sind Regionalanästhesie-Verfahren der peripheren und zentralen neuraxialen Leitungsanästhesie. Offensichtlich. Wer schon mal eine Bauch-OP bei einem Patienten mit gut sitzender PDA gesehen hat, weiß was ich meine. Aber auch in diesem Fall benötigt der Patient zumindest eine Basalrate von einem Opiat (eine Spardosis Remifentanil z.B.). Es ist einfach nicht immer alles gleich gut betäubt und nebenbei erwähnt hat der Patient in der Regel noch einen Tubus, der an sich auch schon ein ordentlicher Schmerzreiz ist…

  • Nicht-Opioid-Analgetika wie Paracetamol, Ibuprofen, Ketorolac, auch wenn diese wirklich schwach sind.
  • Alpha-2-Agonisten wie Clonidin, Dexmedetomidin (das habt ihr bestimmt kommen sehen )
  • NMDA-Rezeptor-Antagonisten wie Ketamin (sehr potent!), aber auch Magnesium, Amantadin, Dextromethorphan
  • Antidepressiva: Amitriptylin, SSRIs
  • Gabapentin / Pregabalin
  • Lidocain als Natrium-Kanal-Blocker an Nervenzellen
  • Muskelrelaxantien wie Methocarbamol, Cyclobenzaprin

Liste nach [5]

Wenn man sich die vorgenannte Liste anschaut, findet man vieles aus der stationären multimodalen Schmerztherapie wieder. Das ist auch alles wirksam und wirkt gut zusammen, das ist definitiv so. Ich bezweifle jedoch ein wenig, dass das für den stärksten Akutschmerz „OP-Reiz“ ausreicht. Vielleicht muss mir das mal einer in echt zeigen. Ich mag eines besseren belehrt werden.

Das Lustige ist eigentlich sogar: Es gibt sowieso immer endogene Opiat-Systeme (Endorphine, Enkephaline), die im Schmerzfall immer auch aktiviert werden. Im Zweifel sind deren Reserven nur schnell erschöpft (bei stärksten Schmerzen). Eine echte Opiat-freie Narkose ist im Grunde also gar nicht möglich ;P

How To: OFA

Ein Beispielrezept für eine Opiat-freie Anästhesie wurde z.B. von den Kollegen Boysen et al. veröffentlicht[6], ich gebe es hier wider:

  • Prämedikation: 1g Paracetamol i.v. + 1-2mg Midazolam
  • Induktion: Lidocain mit 0,03mg/kg/min und Dexmedetomidin 0,5µg/kg/h; Einleitung mit Propofol 1-2mg/kg; Hinzugabe von 10-25mg Ketamin
  • Aufrechterhaltung: Inhalationsanästhesie mit MAC 0,5-1,0 (so gering wie möglich); Lidocain und Dexmedetomidin fortsetzen. Dexmedetomidin nach 2 Stunden auf 0,25µg/kg/h reduzieren und 30min vor Ende der OP beenden
  • Aufwachphase: Lidocain auf 0,02mg/kg/min reduzieren und auf 0,015mg/kg/min im Aufwachraum fortsetzen; NSAID sind die erste Wahl für Schmerzen im AWR

Klingt auf jeden Fall spannend… ich glaub‘ ich trau mich trotzdem nicht

Zusammenfassung

Um es zusammenzufassen: Ich finde es gut, dass Magnesium als Analgetikum gehandelt wird (Magnesium ist super!). Aber obwohl die anderen genannten Mittel bekanntermaßen den Opiat-Bedarf reduzieren können – was zweifelsfrei nötig und sinnvoll ist – glaube ich nicht daran, dass genug „Power“ in so einem Rezept stecken kann, dass der Patient nicht doch etwas Schmerz-mäßiges von der OP mitbekommt.

Wie sind eure Erfahrungen? Habt ihr einen Opiat-freien Ansatz schon einmal erlebt oder gar durchgeführt? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen!

 

 

Links:

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

1 Kommentar

    • Wojciech Faron auf 2. August 2022 bei 08:54
    • Antworten

    Vielen Dank für ihren interessanten Beitrag.
    Ich möchte gerne über meine OFA-Erfahrungen berichten.
    Seit einigen Jahren führen wir im Bereich Bariatrie ausschliesslich OFA durch.
    Die Anwendung erfolgt standardmässig nach einem „OFA-Kochrezept „.
    OFA in diesem Setting ermöglicht uns die Prozedurzeiten zu optimieren, bittet sehr gute hämodynamische Stabilität, hervorragende (postoperative) analgetische und PONV Kontrolle bei gleichzeitiger hoher Patientenzufriedenheit.

    Viele liebe Grüsse,
    W. Faron

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