Ketamin – unter Wasser und sonstwo

 

Zuletzt habe ich einen wirklich interessanten Film gesehen und darauf möchte ich einen Beitrag zum Thema Ketamin aufbauen. Es ging in „Dreizehn Leben“ um die Rettung einer thailändischen Fußballmannschaft aus der Tham-Luang Höhle, die bei überraschend einsetzenden Monsunfällen unter Wasser geraten war und die Jugendlichen und deren Trainer eingesperrt hatte. Sie mussten dort insgesamt bis zu 18 Tage ausharren (23.06.-10.07.2018), bis sie spektakulär durch einen internationalen Kraftakt gerettet werden konnten.

Dafür mussten mehrere Tauchgänge in Folge in Dunkelheit, bei reißender Strömung und im Höhlensetting durchgeführt werden. Diese Bedingungen sind allein schon für erfahrene Taucher sehr herausfordernd. Aber mit „Passagieren“ quasi unmöglich. Dass man mit guter Logistik, Planung und auch entsprechendem Medikamentenmanagement so eine Situation meistern kann, zeigt diese Operation. Und Glück muss man natürlich auch haben.

Life before limb, auch im Wasser (oder: lieber DCS als tot)

Normalerweise kann man beim Tauchen in einer Notsituation auftauchen, um nicht zu sterben durch Ersticken; die Dekompressionskrankheit ist auch potentiell tödlich, aber als letzte Option steht einem  in offenen Gewässern immerhin der Notaufstieg zur Verfügung.

Im Falle von Höhlentaucherei hat man aber keine freie Oberfläche über dem Kopf. Wenn einem der Sauerstoff ausgeht, man die Orientierung verliert, Panik bekommt o.ä. hat man einfach verloren. Deshalb ist gerade das ein sehr spezieller Bereich, den auch bei weitem nicht jeder Taucher macht. In Dunkelheit, schlechter Sicht allgemein, Strömung und Enge kann auch ganz schnell Klaustrophobie und der größte Feind: Panik! entstehen.

Das ist der schlimmste Feind beim Tauchen. Und das hatten wir auch schon mal beim Thema Resilienz und ICU-Krokodil. In Panik kann man nicht mehr rational entscheiden. Sie entsteht, wenn man völlig überfordert ist durch Situationen, die den eigenen Horizont maximal übersteigen. In einer lebensfeindlichen Umgebung wie Wasser ist das tödlich, und ohne Notaufstiegsmöglichkeit in einer Höhle umso mehr.

Jetzt denken wir daran, dass die Jugendlichen aus der gefluteten Höhle gerettet werden mussten durch mehrere aneinandergereihte Höhlentauchgänge in Dunkelheit, Kälte, und, naja, im Wasser halt. Ohne Erfahrung oder Ausbildung.

Patienten-Shuttle unter Wasser

Die professionellen Taucher mussten deshalb allein aus Erfahrungs-Gründen die Jungs als passive „Passagiere“ mitnehmen. Aber auch jemand, der sich passiv mittragen lässt, wird unter diesen Bedingungen sehr wahrscheinlich früher oder später panisch werden und sich und den professionellen Retter gefährden.

Die Lösung liegt auf der Hand: Die „Passagiere“ müssen so ruhig gestellt werden, dass sie die Prozedur über sich ergehen lassen, damit die Taucher ihre Arbeit bestmöglich machen können. Der australische Arzt Richard Harris entwarf dafür unter dem Zeitdruck der eingeschlossenen Jugendlichen einen kühnen Plan, den man wohl nie als „Test“ unter kontrollierten Bedingungen durch ein Ethik-Komitee bekommen hätte:

Die Jugendlichen wurden initial mit Alprazolam schlafen gelegt (HWZ: 12-15 Stunden) und danach mit Ketamin auf einem Level gehalten, das aber alle etwa 30min nachgespritzt werden musste (i.m. durch den Tauchanzug).

Ketamin – let the magic happen

Und da kommen wir endlich zu Ketamin. Warum ausgerechnet das?

Ketamin ist ein Phenzyklidin-Derivat, das strukturell und funktionell sehr eng dem LSD angelehnt ist. Es ist sedierend und analgetisch (ziemlich potent). Ein wichtiges notfallmedizinisches „Feature“ ist die fehlende Atemdepression.

Man stelle sich die Situation vor: Natürlich kann man nicht während eines komplizierten Tauchgangs noch die Vitalzeichen von Patienten überprüfen. Man muss darauf vertrauen, dass das schon funktioniert (ein bisschen gruselig für mich als Anästhesisten). Immerhin konnte man über die entweichenden Luftblasen erkennen, ob der Patient noch ausatmet. Mehr ging aber nicht. Kein Monitoring und so weiter…

Übrigens ist das bei Ketamin mit der fehlenden Atemdepression auch in anderen Situationen wirklich praktisch. Man kann es ausnahmsweise auch als Mono-Sedativum nutzen, z.B. bei schwer zugänglichen Patienten, die starke Schmerzen haben, wo man aber keine Möglichkeit der Atemwegskontrolle hat (z.B. bei  eingeklemmter Patienten im Auto intranasal).

Noch ein Alleinstellungsmerkmal von Ketamin ist wichtig: seine Sympathomimese.

Wirkungen und Nebenwirkungen

Normalerweise führen im Prinzip alle Narkotika zu Blutdruckabfällen, Bradykardien, kurzum einer Kardiodepression. Ketamin ist anders. Es führt zu Blutdruckstabilität bis zu –anstieg, eher ein wenig Tachykardie. Das ist als Notfallmedikament oder in widrigen Umständen ohne vernünftige hämodynamische Überwachung (sic! – das wollte ich immer schon mal schreiben) eine äußerst praktische Eigenschaft.

Bei unserer Fußballmanschaft kam hinzu, dass die Jungs für etwa 2 Wochen bereits eingeschlossen und dementsprechend exsikkiert waren. Blutdrucksenkende Hypnotika können deshalb auch deutlich dramatische Druckabfälle verursachen. Und das in dem unkontrollierten Setting einer Höhle? – unbrauchbar.

Insofern ist Ketamin sehr schick.

Potentiell problematisch sind dessen Nebenwirkungen trotzdem: Psychomimese mit Albträumen (dafür wurde das Alprazolam sicher auch als Prophylaxe mit rein kombiniert). Außerdem eine Hypersalivation. In einer Tauchmaske während mehrstündiger Tauchgänge ohne Bewusstsein und verlässlich funktionierende Atemwegskontrolle im dunklen Wasser schon mindestens, ich nenne es mal „problematisch“.

Wie sah das Protokoll in der Höhle aus?

Jeder Patient bekam zunächst eine Tablette mit 0,5mg Alprazolam verabreicht. Danach wurden sie in den Tauchanzug eingepackt und vorbereitet. Danach wurden 0,02mg/kg Atropin gegen die Hypersalivation prophylaktisch , gefolgt von 5mg Ketamin / kg Körpergewicht verabreicht, alles intramuskulär in die Oberschenkel. Das Kind verfiel in tiefen Schlaf und die Full-Face-Tauchmaske aufgesetzt.

Es folgten mehrere Tests, ob die Maske wirklich dicht saß, bevor weiter fortgesetzt wurde. Die Kinder atmeten aus Zylindern mit 80% O2 und nur 20% N2 um die Apnoetoleranz zu erhöhen für den Fall, dass die Atmung doch aussetzte oder der Atemweg durch die Bewegungen unter Wasser verlegt würde. Diese hohe Sauerstoffkonzentration überwog den potentiellen Schaden durch das Überangebot an Sauerstoff bzw. war  noch in akzeptablen Grenzen mit 1,2 Atmosphären im Rahmen der Höhlen-Druckverhältnisse.

Da das Ketamin als Bolusgabe intramuskulär nur eine Wirkzeit von 30-45min hat, musste es während der Rettungsaktion auch noch regelmäßig nachdosiert werden. Und das von Kräften, die keine Mediziner waren. Deshalb gab es Fertigspritzen mit 100 oder 125mg, die entsprechend des Patienten gewählt wurden (Körpergewicht <45kg: „klein“ mit 100mg, >45kg „groß“ mit 125mg). Eine Vereinfachung war natürlich absolut sinnvoll an dieser Stelle (individuelle Dosierungen in einer dunklen Höhle in der Strömung ist als praxisfern einzustufen). Aber dadurch konnte es bei einzelnen Patienten auch zu Unter- oder Überdosierungen kommen (schon wieder ein Problem).

Ketamin hat eine hohe therapeutische Breite

Ketamin hat zum Glück eine sehr hohe therapeutische Breite, sodass eher die Unterdosierungen mit plötzlich einsetzenden unwillkürlichen Bewegungen der Jungs ein Problem darstellten.

Insgesamt waren etwa 3-4 top-up Dosen notwendig. An Tag 1 benötigte die Rettung eines Kindes etwa 3 Stunden, an Tag 3 sogar nur noch 90 Minuten.

Das gesamte Protokoll der Dosierungen und der technischen Aspekte der Rettungsaktion sind publiziert worden[1]. Mir war an der Stelle wichtig, noch mal Ketamin als vielseitiges sinnvolles Medikament darzustellen. Gerade in schwer kontrollierbaren Settings in Notfallmedizin aber auch der Anästhesie in Schwellenländern ist es ein hervorragendes Medikament. Und dass es allein schon super als Analgetikum wirkt, hatte ich auch schon erwähnt, oder? Nicht? Na gut, dann jetzt 🙂

Aus allen oben genannten Gründen steht Ketamin übrigens auch auf der Liste der essentiellen Medikamente der WHO.

Man kann Ketamin auch in einem festen Verhältnis mit Propofol für die Sedierung für Eingriffe nutzen (z.B. Propofol zu Ketamin 2:1). Das ganze nennt sich dann Ketofol. Manche Kollegen schwören darauf. Und in manchen Settings ist das sicher sinnvoll. Die Kombination soll die Wirkung beider Stoffe verstärken und die Nebenwirkungen minimieren. Würde mich interessieren, ob ihr sowas schon mal probiert oder im Einsatz gesehen habt.

Die Zusammenfassung am Schluss

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Rettung der Jungs aus der überfluteten Höhle ohne den Einsatz von internationalen Spezialisten vermutlich nicht geglückt wäre. Die Logistik war beeindruckend und das Protokoll zur Sedierung gewagt, aber trotzdem sorgfältig abgewägt zwischen Risiko und Nutzen in einer zugegeben verzweifelten Situation.

Als letzte Keypoints vielleicht noch zwei Dinge: Klettert nicht in Höhlen, wenn der Monsun droht zu beginnen und: Nutzt Ketamin, es ist schön 🙂 Und nebenbei: „Dreizehn Leben“ ist ein guter Film, der überraschend nah an den echten Ereignissen ist.

Links:

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

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