Schwing die Knochen: Intraossäre Zugänge

 

In der Tradition, auf diesem Blog Zugänge zu einem Patienten für die Gabe von Medikamenten zu illustrieren (z.B. V. saphena-magna mit Sono), soll es heute um die intraossäre Route gehen.

Gerade in einer Zeit, wo fast überall Ultraschall zur Verfügung steht, sind echte Notfallzugänge eher selten geworden. Wenn ich die Wahl habe, entweder eine orange Viggo in die V. jugularis interna mit Schall zu legen, oder eine Kanüle in den Knochen zu bohren (äquivalente Flussrate wie eine rosa Viggo), werde ich die den Standardzugang „Hals“ wählen.

Nur um das von vornherein klarzustellen: Wir reden hier von lebensbedrohlichen, man könnte sagen: Notfallsituationen, in denen in vernünftiger Zeit kein ordinärer periphervenöser Zugang etabliert werden kann.

Gründe für eine schwere Viggo-Anlage können bekanntlich u.a. sein:

  • „schlechter Venenstatus“ (was auch immer das heißen mag und dann ist es auch noch anwenderabhängig…)
  • schlechte äußere Bedingungen (Licht, Wind und Wetter)
  • Kälte (sehr konstringierte Venen)
  • atypische Haut: sehr dick, Venen schwer zu tasten
  • fehlender Kreislauf (inkl. Reanimation)

(Im Übrigen bin ich dafür, den Begriff „Rollvenen“ abzuschaffen. Die Venen stehen bei „solchen“ Patienten halt unter Druck wie ein Gartenschlauch, sodass man sie gut fixieren und mit Kraft die Venenwand punktieren muss. Meist betrifft das ja sogar Patienten, bei denen man eine gute Punktierbarkeit erwarten würde, weil die Venen so riesig sind. Nun sind Venen im Subkutangewebe locker eingebettet und können sich dort etwas bewegen. Das „Rollen“ bedeutet im Grunde, dass der Punkteur es leider nicht geschafft hat, die Venen „festzuhalten“. Wenn man nun von „Rollvenen“ spricht, verlagert man sein eigenen Unvermögen auf den Patienten, der dafür nun mal überhaupt nichts kann. Just my two cents…)

Zugangsorte für den lebensbedrohlichen Notfall

Es gibt natürlich außer den bekannten Punktionsorten Handrücken, Unterarm, Oberarm auch noch andere Stellen, zum Beispiel am Fuß oder dem Unterschenkel. Manchmal muss man auch mit Ultraschall nachhelfen, um zum Beispiel die V. saphena magna darzustellen und zu punktieren; wobei das nun schon fortgeschritten ist und sicher Übung und eventuell auch mehr Zeit benötigt. Aber wir reden hier ja auch von objektiv schwierigen Verhältnissen.

Der chirurgische Cutdown auf die Vena saphena magna ist eine Option, die in manchen Ländern praktiziert wird, hierzulande aber angesichts einfacherer und schnellerer Methoden meines Wissens nach nicht angewandt wird. Wen es interessiert, ich hatte es in einem Beitrag auch mal kurz beschrieben.

Beim Herz-Kreislauf-Stillstand bietet sich häufig auch die Vena jugularis externa an, die aufgrund des Stillstands sowieso maximal dilatiert ist und dem Notarzt am Kopfende entgegenspringt. Stauung mit der nicht-dominanten Hand thoraxnah und Punktion mit einer großen Nadel (orange Viggo).

Aber was ist mit Patienten, die einfach keine zu Venen anbieten und maximal instabil oder sogar reanimationspflichtig sind? „Mal eben“ ein Medikament zu spritzen ist da nicht möglich (und i.v. wäre zu bevorzugen, weil das einfach in einer Akutsituation am schnellsten wirkt).

Intranasal kann man zwar eine Reihe von Medikamenten geben, aber gerade Vasopressoren funktionieren nicht und sind sogar eher kontraproduktiv (Vasokonstriktion der Schleimhäute in der Nase).

Jetzt geht’s an die Knochen…

Und da kommen wir nun endlich zu den Knochen. Das Knochenmark ist sehr gut durchblutet, und eine Injektion eines Medikaments dort hinein wird genauso schnell in den Körperkreislauf übernommen, wie eine direkte intravenöse Injektion.

Zunächst einmal müssen wir über Punktionsstellen sprechen. Die übliche Stelle ist die mediale Tibia, 2-3 Querfinger distal des Gelenks (1-2cm distal der Tuberositas tibiae). Dort ist wenig Weichteil vor dem Knochen und die Stelle somit schnell und einfach zu identifizieren. Das empfiehlt auch die AWMF-Leitlinie[3].

Vom Hersteller des Knochenbohrers EZ-IO wird aber tatsächlich der proximale Humerus empfohlen, weil das „näher am Herzen“ sei. Problematisch finde ich, dass das Schultergelenk aus vielen interagierenden Teilen besteht und eine große Mobilität mit wenig Knochen- und viel Weichteilführung aufweist. Was ich nun gar nicht haben möchte, ist in den Gelenkspalt zu bohren. Darauf sollte man natürlich immer achten, aber an so einer mobilen Stelle ist das Risiko meiner persönlichen Meinung größer.

Die Identifikation der Punktionsstelle am Humerus erfolgt, indem man mit Daumen und Zeigefinger den distalen Ausläufer des M. deltoideus umfasst und genau in der Mitte der identifizierten Stelle in den Humerus bohrt. Na gut. Behalten wir das im Hinterkopf, als Standardzugang sehe ich trotzdem die Tibia.

Es gibt auch andere Möglichkeiten, meist in der Pädiatrie, wie 1-2cm proximal von Malleolus medialis oder den distalen Femur. Na gut, habt ihr jetzt mal gehört. Ich hab das noch nie im Einsatz gesehen…

Übrigens: Im zivilen Bereich ist das Sternum niemals zu punktieren! Die Nadeln sind zu lang und würden durch das Sternum in die Aorta oder Mediastinum bohren (oder beides, beides ziemlich tödlich).

Welches Werkzeug steht zur Verfügung?

Nach der Frage des Punktionsorts kommt natürlich die Frage des Werkzeugs.

  • Manuelle Punktionsnadeln wie die Cook-Nadel findet man manchmal auf alten Notfallkoffern. Aufgrund der Komplikationen, der Fehllagen und verursachten Schmerzen sollten sie aber nicht mehr eingesetzt werden
  • I.G. (Bone Injection Gun) – Eine Kanone, die mit 12kp bzw. 117N bzw. der Schwerekraft von 12kg in den Knochen ballert. Man sollte sie aber richtig herum halten, sonst feuert man sich in die Hand oder verletzt einen Kollegen; verbogene Nadeln sind keine Seltenheit und deshalb heutzutage nur noch selten in der Praxis anzutreffen
  • EZ-IO (Fa. Vidacare) ist im Grunde ein Akkuschrauber wie aus dem Baumarkt und der de facto Standard für eine solche Art von Punktionen
  • Das FAST1-System ist vor allem militärisch genutzt und für die Sternum-Punktion vorgesehen (weil das Sternum von moderner Körperpanzerung gut geschützt wird ist das tatsächlich der militärisch bevorzugte Punktionsort – aber nicht zivil!)

In der Regel werde ihr also mit der EZ-IO arbeiten, wenn ihr das intraossär tun wollt. Das Vorgehen an sich ist relativ simpel gehalten:

  • Punktionsstelle identifizieren, freimachen, desinfizieren
  • korrekte Nadellänge auswählen und auf den Bohrer aufsetzen
  • NICHT in der Luft „Probebohren“
  • mit aufgesetzter Nadel und dem Bohrer durch die Haut bis auf das Periost punktieren
  • Bohrer erst jetzt auslösen: Die Nadel bohrt sich in Windeseile in den Knochen
  • Punktionsmandrin entfernen, die Kanüle verbleibt im Knochen.
  • Knochenmark kann austreten, muss es aber nicht (ähnlich wie bei der Viggo mit dem Blut)
  • Knochenmark kann aspiriert werden zur Lagekontrolle, ist aber nicht wegweisend

Schön und gut – und was ist mit den Kontraindikationen?

Die Kontraindikationen sollten hoffentlich selbsterklärend sein, werden aber trotzdem kurz aufgeführt:

  • Frakturen in der Nähe
  • proximal der Punktionsstelle vorliegende Gefäßschäden
  • lokale Infektionen
  • frühere Punktionen an derselben Stelle
  • intrakardialer Rechts-Links-Shunt (Luft-/Fettembolie)

Ist das eigentlich schmerzhaft?

Außerdem denkt ihr jetzt bestimmt schon die ganze Zeit: Das ist doch total martialisch. Das tut doch weh! Tatsächlich ist das Schmerzniveau bei wachen Patienten erträglich: Punktion und Bohren an sich beträgt etwa 1-2/10 NRS (erstaunlich wenig). Allerdings führt das injizieren von Flüssigkeiten zu einer sehr schmerzhaften Dehnung des Knochenmarks (NRS 9-10).

Es empfiehlt sich deshalb, vorsichtig mit mindestens NaCl 0,9% 5-10ml zu injizieren[3], um eine Dehnung zu erreichen unter erträglichem Schmerzlevel. Es können natürlich auch direkt systemisch wirksame Analgetika verabreicht werden wie zum Beispiel Opiate oder Ketamin.

Die Injektion von Lidocain wird von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, zumindest bei pädiatrischen Patienten, als kritisch eingestuft:

„Die intraossäre Off-Label-Applikation von Lidocain zur „lokal-systemischen“ Schmerzbehandlung bei pädiatrischen Patienten ist wissenschaftlich nicht fundiert. Sie sollte nicht angewendet werden, da sie die Sicherheit von Kindern gefährden kann und alternative, besser untersuchte Wirkstoffe zur Verfügung stehen.“

Quelle: Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

Nun ist Lidocain auch früher schon intravenös zur Therapie von Rhythmusstörungen angewandt worden; es ist also von einem eher wohlwollenden Risikoprofil auszugehen (s.a. mein Beitrag zum Bier-Block). Allerdings sprechen wir hier auch von wirklich verzweifelten Notfallsituationen, in denen man nicht unbedingt immer den größten Komfort für den Patienten im Auge hat, sondern halt, naja, das Überleben. Mit vorsichtigem Aufdehnen durch die Injektion von NaCl lässt sich der gewünschte Effekt auch erreichen, unter moderatem Schmerzniveau. Nicht vergessen: Es handelt sich hier ja nicht um einen Standardzugang, sondern um einen Notfallzugang der in lebensbedrohlichen Situationen gelegt wird.

Medikamente und deren Dosierung

Medikamente können dann wie über einen i.v.-Zugang verabreicht werden (inklusive derselben Dosierung!). Aber ich möchte es von vornherein sagen: Erwartet keine frei tropfende Infusion. Der Widerstand im Knochenmark ist hoch, sodass man häufig einen Druckinfusionsbeutel benötigt (Schwerkraftinfusion 30ml/min, Druckbeutel bis zu 165ml/min[3]). Ebenso wird die Medikamentengabe über Perfusoren in der Regel nicht funktioneren, sodass man eher intermittierend Boli geben muss (z.B. repetitiv Noradrenalin 10-20ug zur Stabilisierung).

Übrigens ist der i.o.-Zugang auch in Leitlinien zu finden, sowohl für Kinder (instabil unter 3 Jahren) als auch für Erwachsene in der Reanimation (wenn ein i.v.-Zugang nicht rasch möglich ist).

Aber ist das nicht gefährlich? Führt das nicht zu Osteomyelitis? Wenn man normale hygienisch arbeitet und die Kanüle entsprechend der Herstellerempfehlung nicht länger als 48 Stunden belässt, nein: maximal 0,6% Inzidenz[4]. Es gibt sogar Untersuchungen, ob man solche i.o.-Zugänge nicht sogar im klinischen Setting für längere Zeit belassen kann. Naja – mit Ultraschall und ZVKs eigentlich in unseren Breiten keine sinnvolle Option. Es handelt sich ja immer noch um einen Notfallzugang, der unter kontrollierten Bedingungen durch etwas Definitives (PVK, ZVK) ersetzte werden sollte.

Weitere identifizierte Komplikationen sind Fehlpunktion, Nadelbruch, Kompartmentsyndrom traumatische Bullae in der Haut, Extravasation, ggf. Frakturen mit einer Gesamtinzidenz von 2,7%[2], bzw. 1,6% nach [3]. Aber ganz ehrlich: „Life before limb“ gilt hier ganz klassisch.

Wie den intraossären Zugang wieder entfernen?

Und wie bekomme ich so eine Nadel wieder aus dem Knochen raus? Durch das Bohrgewinde sitzt die in der Regel bombenfest im Knochen. Das vom Hersteller mitgelieferte Pflaster ist nett und deckt auch keimfrei ab, hält die Nadel aber nur marginal, während sie selbst sich fest in den Bohrkanal gefressen hat.

Bitte nicht wackeln oder einfach so dran ziehen; das wird nur Schmerzen verursachen und im Zweifel auch nicht funktionieren.

Nehmt eine 5ml Spritze mit Luer-Lock Gewinde und schraubt sie auf den i.o.-Zugang drauf. Dreht dann weiter im Uhrzeigersinn (weiter wie initial beim Bohren – etwas kontraintuitiv) und zieht gleichzeitig an der Nadel. Es ist relativ viel Kraft notwendig, aber so geht es dann auch. Wenn alle Stricke reißen kann die Nadel auch chirurgisch entfernt werden, es ist in der Regel aber nicht notwendig.

Zusammenfassung

Das ganze Handling ist weniger kompliziert und schwer als es jetzt vielleicht erscheint. Es werden immer wieder Workshops angeboten: Nutzt das! Ihr werdet beeindruckt sein, wie gut das geht. Natürlich sollte man es trotzdem mal geübt haben, bevor man es dann in der Realität anwendet.

Wie sind eure Erfahrungen mit diesem Zugangsweg? Ich muss sagen, seitdem wir Ultraschall haben, gehe ich bevorzugt auch bei schwerem Gefäßstatus an Venen. Es ist als Fallback aber trotzdem eine tolle schnelle Möglichkeit sich einen Zugang zu verschaffen.

 

Links:

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

1 Kommentar

  1. Hallo Roman,

    ich habe ein paar kleine Anmerkungen/Infos zur oben genannten Folge.
    Erstmal hat mir wie immer die Folge sehr gut gefallen, mach weiter so 🙂

    Aus meinem Berufsleben heraus, ich bin hauptamtlich Notfallsanitäter, wollte ich dir von ein paar Erfahrungen von mir berichten die ich mit i.o. Zugänge gemacht habe.

    Hier direkt zum Anfang zur Punktionsstelle von proximalen Humerus. Die Stelle habe ich bis jetzt auch erst 2 mal punktiert, einmal während einer Reanimation unter sehr beengten räumlichen Gegebenheiten in der ich neben dem Notarzt der am Kopf war. Von dort hatte ich aber doch eine gute Position um in den Humerus, mit der EZ-IO und der gelben Nadel, zu bohren was sehr gut funktioniert hat, man musste hier nur einmal umdenken weil man von oben drauf schaut.
    Das zweite mal bei einem schwer verletzen älteren Motorradfahrer, wo die Venensituation furchtbar war und sich kein Zugang etablieren lassen hat können, auch hier hat die Anlage ebenfalls wunderbar geklappt.
    Zwei Ausnahmesituationen mit Sicherheit aber bei beiden war die Möglichkeit ein Backup also die Alternative zum venösen Zugang zu haben sehr hilfreich.

    Kenne auch nur das EZ-IO System, als kleine Info, für die älteren Systeme bin ich vermutlich zu jung

    Dann noch die Erfahrung, bei sehr gründlichen anspülen mit 10ml NaCl heißt kräftig und schnell appliziert, läuft die Infusion wirklich frei und sogar auch ohne Druckbeutel.
    Da dazu noch ein kleiner Praxistipp: nach dem bohren erst das Pflaster des Herstellers drauf machen weil sonst wenn die Leitung angeschlossen ist man das Pflaster nicht mehr drüber kleben kann.
    Wie du aber auch im Podcast gesagt hast, wenn der Zugang richtig liegt wird dies eigentlich nicht benötigt was aber auch eine gute Kontrolle der Lage ist da sobald der Zugang wackelt irgendwas nicht stimmt.

    Anschließen dann nicht vergessen einen Dreiwegehahn mit einzubauen, da man sonst keine Medikamente appliziert kann weil anders als bei einem Venenzugang, es beim i.o. Zugang keine zusätzliche Zuspritzmöglichkeit vorhanden ist.

    Zuletzt noch ein Tipp fürs Equipment, falls es ein fertig gepacktes Set oder eine Tasche gibt, ist es praktisch dort direkt ein Dreiwegehahn (vielleicht sogar die mit Verlängerung), 10ml NaCl und eine 10ml Luer-Lock Spritze mit rein legen, somit sind diese immer schnell griffbereit im Notfall 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.