Auf Twitter habe ich das Konzept des „ICU-Crocodile“ (Intensiv-Krokodil) kennengelernt. Ich finde, das beschreibt die Arbeit als Notfall- und Intensivmediziner ganz gut: Unerkannt im Wasser treiben, nur Nüstern und Augen oberhalb der Oberfläche, der Rest versteckt…. und im entscheidenden Moment: ZACK – Tubus 😀 ! Da möchte ich heute etwas drüber nachdenken… und am Ende noch ein Fact, wie man schnell einen Alligator von einem Krokodil unterscheiden kann (Blickdiagnose).
Häufiger habe ich schon von Kollegen Dinge gehört wie „Du bist immer so entspannt und angenehm“. So ein Lob freut mich immer wieder sehr.
Dass man grundsätzlich immer nett und niemals lautstark angreifend o.ä. sein sollte, versteht sich natürlich von selbst!, auch in Hochdruck-Situationen. Leider ist das nicht immer der Fall – aber es kommt auch zugegeben auf den Grad des externen Drucks an, da nehme ich mich nicht von aus. Trotzdem sollte man immer professionell miteinander arbeiten.
First: Check your own pulse
Entspannt zu sein, oder wenigstens den Anschein von Entspannung zu wecken, ist eine ganz andere Nummer. Wenn man als Notarzt auf der Straße oder als Anästhesist in einem Grundversorger nachts allein derjenige mit der größten Notfallmedizin-Expertise ist (Intubation, Reanimation, Notfallbehandlung allgemein), so schaut das Team ganz genau hin, wie man reagiert.
Die erste Reaktion ist meiner Erfahrung nach häufig ein kollektives „Aufatmen“: „Der Anästhesist ist da“. Wenn nichts mehr geht, dann kommen wir um die Ecke, stellen uns an den Kopf und übernehmen als Leader die Führung der Situation.
Dann geht’s aber ans Eingemachte: Organisation des Teams und natürlich die Therapie anhand des Krankheitsbildes. Das ist eigentlich immer fordernd und manchmal auch überfordernd, auch für uns.
Das was aber auf keinen Fall passieren darf, ist die Kontrolle zu verlieren, Unruhe und Panik auszustrahlen. Das Team schaut auf unsere Finger. Wenn wir zittern, kein Konzept haben, dekompensieren, kann das Ergebnis Chaos bis Panik im ganzen Team sein. Das ist schlecht für den Patienten und zerstört unser Team. Wir müssen Ruhe ausstrahlen, zu jeder Zeit.
Wenn ich als Notarzt zu einem Kindernotfall fahre, was im Regelrettungsdienst doch sehr selten und speziell ist, atme ich vor dem Aussteigen aus dem Wagen immer erst einmal tief durch und erde mich ganz bewusst. Meine Hauptaufgabe sehe ich in solchen Situationen zuallererst in der Beruhigung des Teams, das mindestens so aufgeregt ist wie ich.
Algorithmen und Struktur
Sobald man das Emotionale reduziert hat, kann man an das strukturierte Arbeiten gehen. cABCDE, PRO LIFE, o.ä. reicht für den Erstangriff eigentlich immer aus. Das gibt Sicherheit, selbst wenn man nicht sofort weiß, was da eigentlich gerade los ist in der Situation. Man erarbeitet es sich halt.
Nun ist Panik eine Maximalausprägung von Stress, die nicht mehr steuerbar ist. Wenn es erst einmal dazu gekommen ist, ist es eigentlich zu spät.
Aber wie kann man das vermeiden? Nun – man muss eben ein ICU-Crocodile werden. Das bedeutet, dass man zwar den Anschein von Ruhe erweckt, aber trotzdem genau aufpasst, was um einen herum passiert. Tatsächlich gelangweilt oder unaufmerksam zu sein ist natürlich kontraproduktiv. Man könnte sagen: Wir Krokodile lauern auf unsere Beute.
Eustress und Distress
Ihr kennt sicher alle das Konzept von Eustress und Distress. Wir wollen im Bereich des Eustress bleiben. Ruhig, fokussiert, leistungsfähig. Wir wollen niemals in den Distress gelangen. Dafür benötigen wir Resilienz, die auf erfolgreichen Coping-Strategien fußt.
Kurz zur Begriffsbestimmung:
- Coping bezeichnet einfach nur eine Strategie, mit der ein Mensch auf Stress reagiert. Es bedeutet nicht, dass diese Strategie erfolgreich ist.
- Resilienz bedeutet Stress-Resistenz, das Halten einer Situation im Eustress mittels erfolgreicher Coping-Strategien
Aber was sind denn nun Coping-Strategien? Laut COPE-Scale (Carver, Scheier, & Weintraub, 1989) gibt es 15 Items:
- Problemfokussiert: aktives Coping, konkurrierende Aktivitäten unterdrücken, soziale Unterstützung, Planung; Disengagement-Strategien: Zurückhaltung, Verweigerung, Verhaltensrückzug
- Emotionsfokussiert: positive Neubewertung, soziale emotionale Unterstützung, Akzeptanz, Emotionen rauslassen, Planung, Religion; Disengagement-Strategien: Humor, Verweigerung, mentaler Rückzug, Substanzmissbrauch
Was ist gutes aktives Coping?
Was wir benötigen, sind gute Coping-Strategien. Zuallererst „aktives Coping“, was eigentlich das Ziel jeglichen situativen Handelns sein sollte. Es handelt sich um eine recht unscharf begrenzte Definition (American Psychological Association), die aber sinngemäß besagt, dass man sich aktiv mit dem Stressauslöser befasst und Lösungen entwickelt mittels der verfügbaren Ressourcen.
Das wäre zum Beispiel in unserem Kontext strukturiertes Arbeiten mit Algorithmen, weil es wirklich viel Ruhe und Routine in Notfallsituationen bei gleichzeitig guter Versorgung des Patienten bringt. Es heißt nicht umsonst im ATLS „treat first what kills first“. Dafür muss man natürlich das cABCDE mit seinen Implikationen kennen.
Planung und Vorbereitung ist also ein weiterer Schlüssel. Lesen und fortbilden, aber vor allem auch praktisch trainieren. Reanimationstrainings zum Beispiel haben noch niemandem geschadet.
Ein anderer spezieller Bereich wäre zum Beispiel die schwierige Intubation. Als alleiniger Anästhesist im Nachtdienst gibt es eben nicht „mal schnell“ den Oberarzt, der hinter einem steht und das Laryngoskop übernehmen kann. Auch und vor allem in Notfallsituationen ist es aber auch häufig einfach schwerer, als unter den kontrollierten Bedingungen im OP.
Wichtig ist auch hier ein Plan, auch das konventionelle Intubieren um’s Verrecken nicht geht (Difficult Airway Algorithmus z.B. der Difficult Airway Society), und die Fähigkeit diesen Plan umzusetzen (Training).
Ein weiteres gutes Tool ist das sogenannte „10 for 10“: Das Team hält zehn Sekunden inne, reflektiert, wie der aktuelle Stand ist, was die aktuellen Ziele sind, und plant das Vorgehen für die folgenden 10 Minuten. Gerade ein bewusstes Innehalten kann verfahrene Situationen schon einmal deutlich beruhigen.
Zu guter Letzt ist natürlich die Erfahrung ein weiterer Baustein, der sich aber erst mit zunehmender klinischer Tätigkeit aufbaut.
CRM aus der Luftfahrt – für alle
Weitere Strategien gibt es wie Sand am Meer und werden unter CRM: Crew/Crisis Resource Management zusammengefasst. Solche Kurse machen sicher auch Sinn; ich habe oben nur die aus meiner Sicht wichtigsten Strategien zusammengefasst. Das ganze Thema ist an sich hoch spannend. Und man sollte immer dran denken: Es gibt immer irgendeine Art von Grenze bei einem Menschen, man selbst eingeschlossen, die ihn in massiven Stress versetzt und auch in Distress versetzen kann. Das kommt auf die persönliche Historie, Erfahrung, Ausbildung und etablierten Coping-Strategien an, aber im Grunde ist niemand komplett dagegen gefeit. Just sayin‘.
Ich kann euch nur ermutigen, aktiv an eurer Resilienz zu arbeiten, und das geht am besten über Training, Fortbildung und Vorbereitung. Zum Beispiel, indem ihr treuer Hörer oder Leser dieses Blogs werdet, wenn ihr es nicht schon seid ;P
Das Beste zum Schluss
Jetzt ist der Beitrag schon wieder sehr lang geworden, und ich habe immer noch nicht erklärt, wie man ein Krokodil von einem Alligator unterscheidet: Auf den ersten Blick möglich über eine Interpretation des vierten Zahns:
Beim Krokodil steht der unter 4. Zahn außen über dem Oberkiefer (weil beide Kiefer gleich groß sind).
Wieder was gelernt. Gerne dürft ihr in den Kommentaren eure Coping-Strategien hinterlassen. Werdet Krokodile!
Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.
2 Kommentare
2 Pings
Alligatoren sind eine Familie der Krokodile, sind somit Krokodile und daher lassen sich Krokodile – wenn man es genau nimmt – nicht „von Alligatoren unterscheiden.
Autor
Krokodile inkl. des „echten Krokodils“ gehören in die Gruppe der Crocodylidae, Alligatoren zu den Alligatoridae. Beide entstammen der Ober-Familie der Crocodylia. Es handelt sich zwar um dieselbe Familie, dennoch unterschiedliche Untergruppen. Crocodylia und Crocodylidae sind nicht dasselbe.
[…] Der letzte Beitrag zu Krokodilen handelte von der speziellen Unterart des Intensiv-Krokodils und drehte sich im Grunde um CRM und Resilienz. Dennoch gilt wie immer: […]
[…] ist der schlimmste Feind beim Tauchen. Und das hatten wir auch schon mal beim Thema Resilienz und ICU-Krokodil. In Panik kann man nicht mehr rational entscheiden. Sie entsteht, wenn man völlig überfordert ist […]