Im klinischen Alltag sind meiner Erfahrung nach viele Unklarheiten im Umlauf, die eigentlich nicht sein müssten. BDA, DGAI und BDC haben in einer gemeinsamen Stellungnahme bereits 2016 klar geregelt, wie eine präoperative Nüchternheit für elektive Eingriffe aussehen muss. Im Folgenden möchte ich die Informationen noch einmal strukturiert zusammenfassen. Das Dokument der Fachgesellschaften ist zum Nachlesen frei verfügbar (s. Links)
Die Autoren der Empfehlung stellen fest, dass Aspiration die häufigste Todesursache im Rahmen einer Anästhesie ist: 26% Todesfälle in jeglicher Form im Umfeld der Anästhesie und 50% aller direkt Anästhesie-assoziierten Todesfälle. Diese Zahlen stammen aus der referenzierten NAP4-Studie des Royal College of Anesthesiologists (RCOA) aus Großbritannien. Das „National Audit Project“ untersuchte in großangelegten Fragebögen-Untersuchungen eine ganze Reihe Anästhesie-bezogener Fragestellungen. Die Daten sind ebenfalls frei verfügbar auf deren Seite.
>6 Stunden keine feste Nahrung, >2 Stunden keine Flüssigkeiten
Grundsätzlich gilt: 6 Stunden vor Beginn jeglicher Anästhesie keine feste Nahrung aufnehmen lassen und mindestens 2 Stunden davor keine Flüssigkeiten mehr trinken. Was aber ist als feste Nahrung zu werten? Es überrascht vielleicht ein wenig, dass auch Milch, Alkohol- und „Partikel“haltige Getränke in das 6-Stunden-Intervall fallen. Demzufolge ist ein (schwacher) schwarzer Kaffee erlaubt, aber ein Milchkaffee nicht.
Jetzt wird es schon diffizil. Das muss man einem Patienten im Aufklärungsgespräch erst mal klar machen. Das ist vielleicht wissenschaftlich interessant, für die Praxis doch schon recht aufwändig zu erklären. Man kann es sich natürlich auch einfach machen, und nur Nahrung bis Mitternacht und „klare Flüssigkeiten“ (wie Wasser!) bis 6 Uhr morgens erlauben.
Die Autoren finden diese Variante nicht so prickelnd, weil eine prolongierte Fastenperiode auch negative Effekte haben kann. Auf der anderen Seite wird die OP-Planung mit gemischt nüchternen/nicht-nüchternen Patienten deutlich erschwert. In meiner Erfahrung wollte sich bisher keine Klinik auf solche Spielchen wie „morgens um 8 noch eine Scheibe Brot“ einlassen. Einzig bei ambulant einbestellten Patienten, die erst zu einer bestimmten Uhrzeit überhaupt planmäßig das Krankenhaus betreten, wäre eine solche Umsetzung denkbar und praktikabel.
Wie handhabt ihr das bei euch?
Dass die Prämedikationstabletten und gewisse notwendige Dauermedikationen erlaubt sind, versteht sich von selbst. Mit einem kleinen Schluck Wasser ist das in der Regel kein Problem. Die geschätzte Dauer der Magenpassage beträgt – bekannt aus der Physiologie – etwa 20-30 Minuten.
Die Zeit der Nüchternheit ist natürlich auch für den Patienten anstrengend: Mundtrockenheit, eventuell Kopfschmerzen, und natürlich Hunger stressen ihn. Und präoperativ provozierte Exsikkose ist gerade bei alten, sowieso schon trockenen Menschen, ein Problem. Gerade an heißen Tagen sollten solche Patienten entweder früh in den OP gebracht werden, oder schon auf der Station einen Zugang mit Volumensubstitution erhalten. Auch Diabetiker sollten früh geplant werden, um unnötige Unterzuckerungen zu vermeiden.
Präoperatives Rauchen – Narkoserisiko?
Alles soweit noch recht bekannt. Aber was ist jetzt mit dem Rauchen? Ich habe schon häufiger erlebt, dass incompliante Patienten wegen präoperativen Rauchens wieder abgesetzt wurden. Das „Narkoserisiko sei zu hoch“. Aber was meinen die Kollegen damit?
Grundsätzlich gilt: Eine erhöhte Aspirationsgefahr aufgrund des Zigarettenkonsums, auch präoperativ, besteht nicht. Deshalb ist ein Absetzen vom OP-Plan höchstens erzieherisch wirksam (manchmal auch nicht verkehrt). Aus rein medizinischer Sicht aber nicht unbedingt nötig.
Wirklich positive Effekte der Nikotinabstinenz entwickeln sich erst in längeren Zeiträumen. Das perioperative Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen ist erhöht.
Erst ab 4 Wochen aufwärts sinkt das Risiko für pulmonale Komplikationen langsam. Die Wundinfektionsrate gleicht sich erst nach 2 Wochen der von Nichtrauchern an.
Nikotinabstinenz bei kardialen Risikopatienten ist auch für „nur“ 12-48 Stunden sinnvoll
Eine Abstinenz von 12-48 Stunden scheint aber immerhin zu einer Verminderung kardiovaskulärer Komplikationen zu führen (Infarkte und dergleichen). Deshalb sollten zumindest kardiale Risikopatienten sich tatsächlich an das Nikotinverbot halten.
Junge, und (noch) gesunde Raucher, wird das aber nicht betreffen. Auf der anderen Seite finde ich, dass der erzieherische Effekt nicht zu vernachlässigen ist, wenn der incompliante Raucher wieder aus dem OP gekarrt wird, weil er sich nicht an unsere Anordnugen gehalten hat (meine persönliche Meinung). Weil – wenn er präoperativ trotz Verbot rauch, hat er dann nicht vielleicht auch noch ausgedehnt gefrühstückt und lügt uns wegen seiner Nüchternheit einfach an? Das wäre nun wirklich gefährlich!
Links:
- Empfehlung „Perioperative Antibiotikaprophylaxe, präoperatives Nüchternheitsgebot, präoeprative Nikotinkarenz“, bda.de
- National Audit Projects des RCOA
- NAP4-Studie
- Anae-Doc-Cast „Prämedikation“ (Hörprobe)
Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.
2 Kommentare
Also, Rauchverbot als erzieherische Maßnahme finde ich falsch. Wir sind nicht in einem Erziehungsheim, sondern in einem Krankenhaus. Dort geht es um medizinische Indikation und evidenzbased Medizin. Wenn es also, bewiesener Maßen, keinen Nachteil für den Patienten hat, muss ich es ihm auch nicht verbieten. Wenn ich es ihm nicht verbiete, kann er auch nicht dagegen verstoßen. Jeden Raucher im Gegenteil zum Nichtraucher unter Generalverdacht zu stellen, Anordnungen nicht zu befolgen, ist sicher auch nicht der richtige Weg.
Gut finde ich, dass in dem Beitrag endlich mal mit dem Mythos des generellen Rauchverbot aufgeräumt wurde. Das hat sich nämlich noch nicht rumgesprochen. Ich bin übrigens Nichtraucher.
Autor
Vielen Dank für den Kommentar. Weil mir die EBM am Herzen liegt, betreibe ich unter anderem dieses Blog. Dass meine Meinung polarisieren kann, ist mir klar, und eine Diskussion darüber hatte ich eigentlich schon früher erwartet.
Mein Problem ist nicht, dass ein Patient etwas tut, was er darf. Das Problem ist, dass ein Patient denkt er dürfe vielleicht noch andere Dinge, die er dann aber nach LL nicht darf. Das Erlauben von Dingen öffnet ein Stück weit das Tor zur patientenseitigen Interpretation, und davor habe ich Respekt:
Patienten erinnern sich bloß an nur einen Bruchteil nach dem Aufklärungsgespräch, das ist Fakt; sie werden von uns im Rahmen der Vorbereitung mit so vielen Informationen bombardiert, das kann sich einfach keiner komplett merken. Und wenn dann nicht die wichtigen Dinge wie die Nüchternheit klar geregelt sind, bleibt Platz für Interpretationsspielraum auf Seiten des Patienten. Da kann man so viel reden und erklären wie man will (das verwirrt nur noch mehr), und ein Merkzettel kann zwar gelesen werden, aber genauso wahrscheinlich im Haufen der anderen Papiere untergehen und übersehen werden (auch ohne bösen Willen). Stichwort: Praxistauglichkeit der sehr differenzierten LL. Klarheit, die zu Sicherheit führt, muss hier die Maxime sein. Meiner Meinung nach darf dabei vereinfacht werden, wenn es die Sicherheit erhöht (nichts außer einem Glas Wasser erlauben, auch wenn es in der LL Ausnahmen gibt). KISS-Prinzip: „Keep it simple, stupid“
Und warum jetzt ausgerechnet Raucher „erziehen“? Vielleicht blöd formuliert. Aber wenn ich schon 1 Zigarette erlaube, wer sagt mir, dass es nicht, „weil es so stressig war“, ne ganze Schachtel wurde, draußen mit den anderen Rauchern vor der Tür? Oder noch ein Milchkaffee, weil der so gut damit runtergeht? Das bietet Möglichkeiten zur Eskalation, die ich aus Sicherheitsgründen nicht haben will. Und als Zeichen der Compliance und Therapieadhärenz für ein gutes Behandlungsergebnis darf man uns den Vorschuss der Rauch-Nüchternheit gewähren, finde ich. Patienten graben auch schon mal gerne, um die Grenze des Erlaubten auszuloten. Wenn man nicht aufpasst, öffnet man dabei Tür und Tor für Unsicherheit! Mit fehlendem Vertrauen hat das im Übrigen nichts zu tun (dann hätten wir sowieso schon verloren) – eher mit übermäßiger Komplexität der Nüchternheitsleitlinie, die wir auf Praxistauglichkeit runterbrechen müssen, damit wir sichere Narkosen durchführen können.