Verrückte Sache – wenn man sich mit den volatilen Anästhetika genauer beschäftigt, muss man sich nach einiger Zeit unweigerlich fragen: Warum gibt es überhaupt Desfluran, und warum wird es noch verwendet?
Zunächst der pharmakologische Nutzen: Es hat einen Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten von 0,42. Das ist niedriger als bei allen anderen Inhalationsanästhetika, selbst niedriger als Lachgas (0,47). Das nächste Gas, was da heran kommt, ist erst Sevofluran mit einem Koeffizienten von 0,65.
Schlechte Blutlöslichkeit bedeutet gute Steuerbarkeit
Der Vorteil liegt also auf der Hand: Durch die schlechte Blutlöslichkeit (niedrige Potenz) flutet Desfluran besonders schnell an und ab; man soll die Narkose deshalb also besonders gut steuern können. Steuerbarkeit ist in der Anästhesie immer so ein Zauberwort, auf das alle Kollegen abstellen. Dass früher auch Narkosen mit Isofluran völlig problemlos durchgeführt werden konnten (BGVK 1,2), wird da gerne verschwiegen.
Wenn man den Gastopf bei Desfluran zu spät schließt nach längerer OP-Dauer, kann man trotzdem lange darauf warten, dass der Patient erwacht. Da spielen eben auch viele andere Faktoren eine Rolle: Wie funktioniert die Kommunikation zwischen Operateur und Anästhesist? Hat der Anästhesist ein Gefühl dafür, wie lange die OP noch laufen wird? Welche anderen Anästhetika wurden im Rahmen der Narkose verabreicht? (Narkose ist ein Zusammenspiel vieler Pharmaka, die sich gegenseitig potenzieren; deshalb ist es schwierig, ein einziges Mittel abzugrenzen, warum der Patient in dieser einen blöden Situation eben nicht sofort wach wird, sondern noch etwas schläft).
Der Gasverbrauch ist bei Desfluran am höchsten
Durch den niedrigen Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten benötigt man auch relativ viel Narkosegas zur Aufrechterhaltung der Narkose: MAC 6,0 Vol.% (bei einem 40y/o Patienten). Bei Sevofluran liegt die MAC schon nur noch bei 2,1 Vol.%. Das bedeutet einen deutlich höheren Gasverbrauch für Desfluran.
Unter diesem Aspekt ist es teuer: In einer orientierenden Google-Suche kam ich zu folgenden Werten:
- Desfluran: ~51€ / 100ml
- Sevofluran: ~60€ / 100ml
Ausgehend von der MAC benötigt ein Patient mehr Desfluran als Sevofluran; somit sind die obenstehenden Zahlen vielleicht etwas irreführend; und Minimal-Flow Narkosen können mit beiden Gasen durchgeführt werden; das ist eine Frage des verwendeten Geräts.
Desfluran hat weitere unangenehme Eigenschaften: Es bildet Trifluoracetat, das immunogen ist und eine „Halothan-Hepatitis“ auslösen kann (entsprechend der Metabolisierungsrate von 0,2% sehr unwahrscheinlich, aber immerhin). Mit trockenem verbrauchtem Atemkalk kann überdies CO entstehen. Ups. Die Fluoridionen, die freigesetzt werden, sind wie bei Sevofluran nach aktueller Lage aber unbedenklich
Bei schneller Anflutung kommt es zu einer paradoxen Aktivierung des Sympathikus mit Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck, das gerade bei vorerkrankten Patienten (an Herz und Hirn) Ischämien begünstigt. Das ist einmalig bei den volatilen Anästhetika, jedoch im negativen Sinne.
Desfluran ist in der Neuroanästhesie nicht gut geeignet
Die Kopplung von CMRO2 und CBF wird aufgehoben. Aber die Erhöhung des CBF (und damit die Hirndruckerhöhung bei neurochirurgischen OPs) ist, neben Halothan mit am ausgeprägtesten. Man könnte sagen: ungünstig! Sevofluran ist hier deutlich günstiger, wenn auch nicht optimal, weil es auch leicht den CBF erhöht; na gut. In so einem Falle wären Injektionanästhetika zur Senkung von CBF und Hirndruck sämtlich zu bevorzugen (z.B. als TIVA).
Dazu kommt der untypische Verdampfer für Desfluran. Da der Siedepunkt nahezu bei Raumtemperatur liegt (~23,5°C) würde es bei konventionellem Aufbau des Vapors zu einer nicht steuerbaren Verdampfung/Gasbildung kommen: Sobald der Siedepunkt überschritten wird, wird mehr Gas abgegeben; durch die vermehrte Abgabe würde aber der Vapor wieder abkühlen (2. Gesetz von Gay-Lussac), was eine niedrigere Abgabe zur Folge hätte. Die Hersteller haben sich deshalb entschieden, den Vapor aktiv zu erhitzen auf ~39°C (bei 2atm Druck), und dann das Desfluran-Gas elektronisch gesteuert dem Hauptstrom beizumischen. Dafür ist ein höherer technischer Aufwand nötig – ergo teurer.
Es bleibt der „akademische Nutzen“. Durch die Besonderheiten des Gases und Vapors können „schöne“ verrückte Testate gehalten werden. Einen klinischen Nutzen sehe ich jedoch nicht. In allen Belangen ist Sevofluran ein „besseres“ Gas (von Xenon mal abgesehen, was sich wohl auch in naher Zukunft nicht rentieren wird).
Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.
3 Kommentare
Bin absolut deiner Meinung. Nicht zu vergessen (besonders heutzutage, wo das Augenmerk immer mehr auf Umweltverträglichkeit liegt) ist auch der viel größere und länger andauernde negative Einfluss als Treibhausgas. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3522493/
LG
Autor
Dem kann ich nichts mehr hinzufügen, außer: Danke für deine Kommentare 🙂 !
Ich dachte die Potenz eines Volatilen Anästhetika ist vom Öl/Gas Verteilungskoeffizienten abhängig ( Meyer-Overton Hypothese) und nicht vom Blut/Gas Verteilungskoeffizienten?