Liberale Flüssigkeitskarenz

 

Ein Gastbeitrag von Anne Rüggeberg und Eike Nickel

Im letzten Beitrag wurde die Frage gestellt, wie wir die Empfehlungen zur präoperativen Flüssigkeitskarenz in Zukunft für unsere Patient:innen vor Narkose gestalten sollten?

Das Problem

Das Problem ist ja, dass die strikte Einhaltung der aktuellen Leitlinienempfehlung einer 2-stündige Flüssigkeitskarenz in der Realität dazu führt, dass Patient:innen im Median bis zu 12 Stunden vor ihrer Narkose nicht getrunken haben. Dies steht im Widerspruch zur Empfehlung der Leitlinie, dass Patient:innen nicht länger als 2 Stunden nüchtern sein sollten. Längeres Fasten beeinträchtigt nicht nur das Wohlbefinden unserer Patient:innen, sondern erhöht auch deutlich die perioperative Morbidität. Doch welche Lösungsansätze bietet uns die Literatur?

Lösungsansatz: Intensive Schulungsmaßnahmen

Ein Lösungsansatz wären intensivere Schulungsmaßnahmen. In zwei neueren Studien von Witt et al. (2021) und van Noort et al. (2022) wurden die Nüchternheitszeiten vor einer Operation durch intensive Schulungsmaßnahmen verkürzt. Allerdings hatten die Patient:innen trotzdem mehr als 5 Stunden vor ihrer Operation nicht getrunken, also deutlich länger als in den Leitlinien empfohlen [1,2]. Auch eine Erinnerungs-SMS konnte die Flüssigkeitskarenzzeiten verkürzen, allerdings erreichten dennoch 86% der Patient:innen nicht die empfohlenen Zeitintervalle [3].

Lösungsansatz: „Trinken bis Abruf“

Ein anderer Lösungsansatz sind liberale Flüssigkeitsregime. Die Kinderanästhesie in Uppsala hat es vorgemacht, seit mehr als 20 Jahren erlauben sie ihren kleinen Patient:innen bis zum Abruf in den OP zu trinken und ein Wassereis zu essen [4,5]. Inzwischen führen immer mehr Kliniken auch für Erwachsene liberale Flüssigkeitsregime ein. In England haben bereits 21 von 100 NHS Krankenhäusern ihre Flüssigkeitskarenzzeiten liberalisiert, 15 erlauben trinken bis Abruf [6]. Keine dieser Kliniken berichtet über eine erhöhte Rate von unerwünschten Ereignissen.

In der ‘THINK DRINK’ Kampagne dürfen Patient:innen bis zum Abruf Wasser trinken, die Flüssigkeitskarenzzeit liegt bei 2 Stunden [7]. Das „SipTilSend“ Konzept, welches ein Glas klarer Flüssigkeit pro Stunde erlaubt, konnte die Flüssigkeitskarenzzeit auf 74 beziehungsweise 17 Minuten reduzieren [8,9]. Bei mehr als 12.000 Patienten wurde kein Anstieg unerwünschter Ereignisse festgestellt. Allerdings scheint die alleinige Wasserzufuhr keine hohe Patientenzufriedenheit zu gewährleisten, zumindest nicht bei Schwangeren unter der Entbindung [10]. Viele Patientinnen wünschten sich frische klare Flüssigkeiten, gesüßte Getränke und eine uneingeschränkte Trinkmenge.

Lösungsansatz: „Trinken bis Abruf mit Nüchternheitskarten“

Das alleinige Erlauben von Trinken bis Abruf scheint auf den ersten Blick zu funktionieren. Befragt man Patient:innen aber, wann sie zuletzt mehr als ein paar Schlucke Wasser zur Medikamenteneinnahme getrunken hatten, lag der Median bei 12 Stunden [11]. Zu tief verwurzelt ist die Tradition, je länger nüchtern desto besser. Daher sollten liberale Flüssigkeitsregime mit intensiven Schulungsmaßnahmen kombiniert werden. Eine Möglichkeit bieten Nüchternheitskarten. Sie dienen als niederschwelliges Schulungstool sowohl für Mitarbeiter, als auch für Patient:innen und deren Angehörige. Durch die individuelle Anpassung der Nüchternheitszeiten für klare Flüssigkeiten und feste Kost kann die Patientensicherheit erhöht werden [12].

Das Konzept Nüchternheitskarten

Das Konzept Nüchternheitskarten ist ein frei verfügbares dreistufiges Ampelsystem, es besteht kein Copyright [13]. Eine grüne Karte erhalten Patient:innen ohne wesentliche Vorerkrankungen oder operative Besonderheiten. Sie dürfen bis zum Abruf klare Flüssigkeiten entsprechend ihren Wünschen und Gewohnheiten trinken, auch Kaffee oder Tee mit Milch oder ein Wassereis. Eine gelbe Karte bekommen Patient:innen, für die aufgrund ihrer Vorerkrankungen oder operativen Besonderheiten ein individualisiertes Vorgehen erforderlich ist. Eine rote Karte ist schwerkranken Notfallpatient:innen vorbehalten, die ab sofort weder essen noch trinken dürfen. Eine rote Karte erhalten also zum Beispiel Patient:innen mit einem Ileus oder einem schweren Schädel-Hirn-Trauma.

Ambulanten und prästationären Patient:innen wird die Nüchternheitskarte als DIN A 5 Flyer mit nach Haus gegeben. Stationäre Patient:innen erhalten eine laminierte DIN A 4 Karte an ihr Bett gehängt. Auf den Rückseiten der Karten stehen die Informationen in englischer, türkischer, russischer und arabischer Sprache.

Das Konzept „Trinken bis Abruf in den OP mit Nüchternheitskarten“ ermöglicht Patient:innen die kontinuierliche Aufnahme klarer Flüssigkeiten im Verlauf des Operationstages ohne Einschränkungen auf die Flexibilität der OP-Planung. Patient:innen trinken unter diesem Konzept immer wieder kleinere Mengen der von ihnen bevorzugten klaren Flüssigkeiten. Die Flüssigkeitskarenzzeiten konnten von im Median 12 Stunden auf 2,1 Stunden reduziert werden [11,14] und liegen damit im Median im Bereich der Leitlinienempfehlung. Die Nüchternheitskarten gewährleisten durch die kontinuierliche Schulung einen Beitrag zur dauerhaften Reduktion der Flüssigkeitskarenzzeiten.

Fazit

Das Konzept Trinken bis Abruf mit Nüchternheitskarten hat nach Meinung der Autoren dieses Gastbeitrags viele Vorteile. „Trinken bis Abruf ermöglicht den Patient:innen auch am OP-Tag entsprechend ihren Vorlieben und Gewohnheiten klare Flüssigkeiten zu trinken und die Leitlinienempfehlung der 2 Stunden kann im Median eingehalten werden. Durch das dreistufige Ampelsystem ist eine individuelle Anpassung an die Vorerkrankungen der Patient:innen sowie an die operativen Besonderheiten möglich. Mit den Nüchternheitskarten ist kontinuierlich transparent, welche Nüchternheitsregel für den einzelnen Patienten gilt. Dadurch kann die Patientensicherheit erhöht werden. Damit liberale Flüssigkeitsregime in die Leitlinien einfließen können, sind entsprechende Studien erforderlich. Diese Studien gibt es aufgrund der bestehenden Leitlinie leider nicht.

 

Weitere Informationen zum Projekt „Trinken bis Abruf mit Nüchternheitskarten“ erhalten Sie hier:

www.helios-gesundheit.de/berlin-behring/nuechternheit

 

Literatur

  1. van Noort HHJ, Lamers CR, Vermeulen H, Huisman-de Waal G, Witteman BJM. Patient Education Regarding Fasting Recommendations to Shorten Fasting Times in Patients Undergoing Esophagogastroduodenoscopy: A Controlled Pilot Study. Gastroenterol Nurs 2022; 45: 342–53.
  2. Witt L, Lehmann B, Sümpelmann R, Dennhardt N, Beck CE. Quality-improvement project to reduce actual fasting times for fluids and solids before induction of anaesthesia. BMC Anesthesiol 2021; 21: 254.
  3. Zia F, Cosic L, Wong A et al. Effects of a short message service (SMS) by cellular phone to improve compliance with fasting guidelines in patients undergoing elective surgery: a retrospective observational study. BMC Health Serv Res 2021; 21: 27.
  4. Andersson H, Hellström PM, Frykholm P. Introducing the 6-4-0 fasting regimen and the incidence of prolonged preoperative fasting in children. Pediatr Anaesth 2018; 28: 46–52.
  5. Andersson H, Zarén B, Frykholm P. Low incidence of pulmonary aspiration in children allowed intake of clear fluids until called to the operating suite. Paediatr Anaesth 2015; 25: 770–7.
  6. Sands R, Wiltshire R, Isherwood P. Preoperative fasting guidelines in National Health Service England Trusts: a thirst for progress. Br J Anaesth 2022; 129: e100–2.
  7. Kannan S. Will one hour less make any difference? Eur J Anaesthesiol 2020; 37: 52.
  8. Marsman M, Kappen TH, Vernooij LM, van der Hout EC, van Waes JA, van Klei WA. Association of a liberal fasting policy of clear fluids before surgery with fasting duration and patient well-being and safety. JAMA Surgery 2023; 158: 254–63.
  9. Checketts MR. Fluid fasting before surgery: the ultimate example of medical sophistry? Anaesthesia 2023; 78: 147–9.
  10. Bouvet L, Garrigue J, Desgranges F-P, Piana F, Lamblin G, Chassard D. Women’s view on fasting during labor in a tertiary care obstetric unit. A prospective cohort study. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 2020; 253: 25–30.
  11. Rüggeberg A, Nickel EA. Unrestricted drinking before surgery: an iterative quality improvement study. Anaesthesia 2022; 77: 1386–94.
  12. Friedrich S, Meybohm P, Kranke P. Pro: Lockerung der Flüssigkeitskarenz vor elektiver Operation?: Alte Gewohnheiten sind nur schwer abzulegen. Der Anaesthesist2021 Oct 28; doi 10.1007/s00101-021-01060-0.
  13. Mit Nüchternheitskarten nicht stundenlang nüchtern bleiben. https://www.helios-gesundheit.de/kliniken/berlin-klinikum-emil-von-behring/unser-angebot/fachbereiche/anaesthesiologie/nuechternheitskonzept/. 2023.
  14. Rüggeberg A, Nickel EA. Unrestricted drinking before surgery: a structured patient interview. Anaesthesia 2023; 78: 911–3.
Anne Rüggeberg

Projektleiterin, Mitglied der europäischen Leitlinienkommission „Preoperative Fasting in Adults“ und deutschen Leitlinie Nüchternheit bei Kindern

Eike Nickel
Chefarzt Anästhesiologie, Leiter OP-Management bei Helios Klinikum Emil von Behring, Berlin | Webseite

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