Internationale Leitlinien empfehlen eine 2-stündige Flüssigkeitskarenz vor Narkoseeinleitung [1–3]. Das ist organisatorisch kaum umsetzbar. Und aus Angst, das Anästhesist:innen eine Narkoseeinleitung bei Patient:innen ablehnen, die diesen Grenzwert unterschreiten, dürfen diese sicherheitshalber ab den frühen Morgenstunden nichts mehr trinken. Und da je länger nüchtern umso besser schon immer so war, trinken einige Patient:innen zuletzt am Vorabend. Dass das nicht gut ist, wissen wir alle.
Neurologische Symptome treten bereits beim Verlust von 1% des Körperwassers auf, dies entspricht ungefähr 400ml bei einem normgewichtigen Erwachsenen [4]. Jeder Notarzt kennt den Einsatz zur Bewusstseinseintrübung im Seniorenheim und kann nach intravenöser Flüssigkeitsgabe einen aufgeklarten Patienten in seiner gewohnten Umgebung belassen.
Aber sollten unsere Patient:innen nicht mit optimalen Voraussetzungen in ihre Operation starten, so wie Sportler in einen Wettkampf? Warum ist das nicht so? Und können wir so weitermachen?
Wie alles begann…
Schon mit den Anfängen der Anästhesie wurde darauf hingewiesen, dass ein mehrstündiges präoperatives Nüchternheitsgebot bestehende Erschöpfungszustände verschlimmert. Doch dann beschrieb 1946 der Geburtshelfer Mendelson retrospektiv 66 Fälle mit Aspiration von Mageninhalt während Narkosen bei 44.016 Schwangeren. Es gab zwei Todesfälle, beide durch vollständige Atemwegsobstruktion aufgrund aspirierter fester Nahrung [5].
Und obwohl in der damaligen Ära ohne moderne Intensivmedizin und differenzierte Antibiotikatherapie keine Patientin verstarb, die flüssigen Mageninhalt aspirierte, etablierte sich in den folgenden Jahrzehnten das Konzept „Nil per os nach Mitternacht“, auch für gesunde, elektive Patienten ohne Risikofaktoren.
1974 legte dann Roberts aufgrund von unveröffentlichten Daten bei Rhesusaffen willkürlich den kritischen Wert des Magenvolumens bezüglich des Aspirationsrisikos auf 0,4 ml/kg KG fest [6,7]. Damit hatten aber sehr viele Patient:innen einen „vollen Magen“, so dass neuere Studien den Grenzwert von 1,5 ml/kg KG für die Differenzierung zwischen leerem und vollem Magen verwenden [8,9]. Das entspricht der 95.- bis 97.-igste Perzentile des Magenvolumens gesunder nüchterner Erwachsener.
Warum aspirieren Patienten?
Mit diesem Grenzwert hätten ja 3-5% der Patient:innen einen vollen Magen, die Aspirationsrate liegt bei elektiven Operationen aber bei 0,03% [10–12]. Das Magenvolumen scheint damit als Surrogatparameter für das Aspirationsrisiko und insbesondere für das Risiko einer Aspirationspneumonie ungeeignet.
Und richtig, liest man sich die einzige Literaturquelle, den NAP 4 [13] durch, die unsere gemeinsame Stellungnahme der Fachgesellschaften 2016 zitiert hat [14], so gibt es keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen dem Trinken klarer Flüssigkeiten und einem erhöhten Aspirationsrisiko.
Dagegen sind die meisten Aspirationen darauf zurückzuführen, dass Risikofaktoren für eine Aspiration nicht erkannt und die Anästhesietechnik nicht entsprechend angepasst wurde. Auch die internationalen Leitlinien [1–3] helfen uns nicht weiter, da sie nur untersucht haben, ob Flüssigkeitskarenzzeiten zwischen 2 und 4 Stunden das Risiko einer Aspiration gegenüber einer mehr als 4-stündigen Flüssigkeitskarenz erhöhen.
Was passiert eigentlich mit dem, was wir trinken?
Flüssigkeiten passieren schnell die Speiseröhre und gelangen in den Magen [15]. Die Aufgabe des Magens besteht in der Verdauung und Aufspaltung der Nahrung sowie in der Speicherfunktion. Diese Funktion entfällt für Wasser und klare Flüssigkeiten mit geringer Energiedichte. Entsprechend verlassen klare Flüssigkeiten den Magen schnell, und zwar exponentiell und proportional dem aktuellen Füllungszustand [16,17].
Trinken Probanden zum Beispiel 500 ml Wasser, so hat nach 10 min mehr als die Hälfte des Wassers den Magen wieder verlassen, nach 15 min ist der Magen leer [18]. Trinken Probanden zum Beispiel initial 600 ml eines kohlenhydratangereicherten Getränkes und dann alle 20 min erneut 150 ml, so kommt es wieder zur exponentiellen Magenentleerung proportional dem aktuellen Füllungszustand [16,17]. Diese Probanden haben nach einer Stunde 900 ml Carbo-Drink getrunken, den Energiegehalt eines leichten Frühstücks zu sich genommen und trotzdem einen leeren Magen.
Und die Folgen von langer Flüssigkeitskarenz?
Lange Flüssigkeitskarenz reduziert nicht nur das Wohlbefinden der uns anvertrauten Patient:innen und führt zur Zunahme von Durst, Angst, Müdigkeit oder postoperativer Übelkeit [19,20]. Präoperative Dehydratation führt auch zu ernsthaften postoperativen Komplikationen [21], wie zum Beispiel:
- Delir
- Nierenversagen
- Probleme der Atmung oder des Herzkreislaufsystems
- Infektionen
- Reoperationen
In einer Studie zum Delir hatten Patienten, die mehr als 6 Stunden vor ihrer Operation nicht getrunken hatten, ein deutlich höheres Risiko für ein postoperatives Delir und verblieben viel länger im Krankenhaus als Patienten, die innerhalb der letzten 6 Stunden noch getrunken hatten [22].
Was tun?
Die Leitlinien bringen uns irgendwie in ein Dilemma. Auf der einen Seite soll die „zwei Stunden“-Grenze nicht unterschritten werden, um Aspirationen zu vermeiden. Auf der anderen Seite sollen Patient:innen möglichst kurze Flüssigkeitskarenzzeiten einhalten um Unwohlsein und postoperative Komplikationen zu vermeiden.
Diese Punktlandung bekommen wir nicht hin.
Für Patient:innen vor prozeduraler Sedierung gibt es daher seit 2020 ein internationales Consensus Statement, das für Patienten mit fehlendem oder geringem Aspirationsrisiko die zeitlich und mengenmäßig uneingeschränkte Einnahme klarer Flüssigkeiten [23].
Wie sollen wir die Empfehlungen zur präoperativen Flüssigkeitskarenz in Zukunft für unserer Patient:innen vor Narkose gestalten?
Dazu geht es im nächsten Beitrag hier weiter.
Links:
- [1]Smith I, Kranke P, Murat I et al. Perioperative fasting in adults and children: guidelines from the European Society of Anaesthesiology. Eur J Anaesthesiol 2011; 28: 556–69.
- [2]American Society of Anesthesiologists. Practice Guidelines for Preoperative Fasting and the Use of Pharmacologic Agents to Reduce the Risk of Pulmonary Aspiration: Application to Healthy Patients Undergoing Elective Procedures. Anesthesiology 2017; 126: 376–93.
- [3]Joshi GP, Abdelmalak BB, Weigel WA et al. 2023 American Society of Anesthesiologists Practice Guidelines for Preoperative Fasting: Carbohydrate-containing Clear Liquids with or without Protein, Chewing Gum, and Pediatric Fasting Duration—A Modular Update of the 2017 American Society of Anesthesiologists Practice Guidelines for Preoperative Fasting. Anesthesiology 2023; 138: 132–51.
- [4]Wirth R. Dehydratation verstehen – wie viel Wasser braucht der ältere Mensch? Aktuelle Ernährungsmedizin 2020; 45: 286–91.
- [5]Mendelson CL. The Aspiration of Stomach Contents into the Lungs During Obstetric Anesthesia. American Journal of Obstetrics and Gynecology 1946; 52: 191–205.
- [6]Roberts RB, Shirley MA. Reducing the Risk of Acid Aspiration During Cesarean Section: Anesthesia & Analgesia 1974; 53: 859–68.
- [7]Roberts RB, Shirley MA. Antacid Therapy in Obstetrics. Anesthesiology 1980; 53: 83–83.
- [8]Van de Putte P, Vernieuwe L, Jerjir A, Verschueren L, Tacken M, Perlas A. When fasted is not empty: a retrospective cohort study of gastric content in fasted surgical patients † †This Article is accompanied by Editorial Aew450. Br J Anaesth 2017; 118: 363–71.
- [9]Van de Putte P, Perlas A. The link between gastric volume and aspiration risk. In search of the Holy Grail? Anaesthesia 2018; 73: 274–9.
- [10]Andersson H, Zarén B, Frykholm P. Low incidence of pulmonary aspiration in children allowed intake of clear fluids until called to the operating suite. Paediatr Anaesth 2015; 25: 770–7.
- [11]Marsman M, Kappen TH, Vernooij LM, van der Hout EC, van Waes JA, van Klei WA. Association of a liberal fasting policy of clear fluids before surgery with fasting duration and patient well-being and safety. JAMA Surgery 2023; 158: 254–63.
- [12]Warner MA, Warner ME, Weber JG. Clinical Significance of Pulmonary Aspiration during the Perioperative Period. Anesthesiology 1993; 78: 56–62.
- [13]Cook TM, Woodall N, Frerk C. Major complications of airway management in the UK: results of the Fourth National Audit Project of the Royal College of Anaesthetists and the Difficult Airway Society. Part 1: Anaesthesia. Br J Anaesth 2011; 106: 617–31.
- [14]Gemeinsame Stellungnahme. Perioperative Antibiotikaprophylaxe, Präoperatives Nüchternheitsgebot, Präoperative Nikotinkarenz. 2016; 57: 231–3.
- [15]Pal A, Brasseur JG, Abrahamsson B. A stomach road or “Magenstrasse” for gastric emptying. Journal of Biomechanics 2007; 40: 1202–10.
- [16]Leiper JB. Fate of ingested fluids: factors affecting gastric emptying and intestinal absorption of beverages in humans. Nutr Rev 2015; 73: 57–72.
- [17]Rehrer N, Brouns F, Beckers E, ten Hoor F, Saris WH. Gastric Emptying With Repeated Drinking During Running and Bicycling. Int J Sports Med 1990; 11: 238–43.
- [18]Okabe T, Terashima H, Sakamoto A. Determinants of liquid gastric emptying: comparisons between milk and isocalorically adjusted clear fluids. Br J Anaesth 2015; 114: 77–82.
- [19]Tosun B, Yava A, Açıkel C. Evaluating the effects of preoperative fasting and fluid limitation: The effects of preoperative fasting. Int J Nurs Pract 2015; 21: 156–65.
- [20]Liang Y, Yan X, Liao Y. The effect of shortening the preoperative fasting period on patient comfort and gastrointestinal function after elective laparoscopic surgery. Am J Transl Res 2021; 13: 13067–75.
- [21]Ylinenvaara SI, Elisson O, Berg K, Zdolsek JH, Krook H, Hahn RG. Preoperative urine-specific gravity and the incidence of complications after hip fracture surgery: A prospective, observational study. Eur J Anaesthesiol 2014; 31: 85–90.
- [21]Radtke FM, Franck M, MacGuill M et al. Duration of fluid fasting and choice of analgesic are modifiable factors for early postoperative delirium: Eur J Anaesthesiol 2010; 27: 411–6.
- [22]Green SM, Leroy PL, Roback MG et al. An international multidisciplinary consensus statement on fasting before procedural sedation in adults and children. Anaesthesia 2020; 75: 374–85.