Hydroxyethylstärke Lösung (HAES) nur mit Schulung

Die Koordinationsgruppe für gegenseitige Anerkennung und dezentralisierte Prozeduren (CMDh, Coordination Group for Mutual Recognition and Decentralised Procedures – Human) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) hat entschieden: HAES darf weiterhin verwendet werden, wenn gewisse Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, und muss nicht vom Markt genommen werden.

Wow.

Die Begründung liest sich etwas allgemein: In manchen Ländern habe HAES einen „gewissen Stellenwert“ in der Therapie, und die Warnungen bezüglich der Anwendung und Kontraindikationen von 2013 haben einen „gewissen Effekt“ gehabt.

Ich bin begeistert.

88 von 102 Studien waren gefälscht

Das ganze beginnt mit dem deutschen Anästhesisten Joachim Boldt, der einfach „mal eben so“ 88 von 102 erschienen HAES-Studien gefälscht hatte. Mit dem Auffliegen dieses groß angelegten Betrugs brach im Prinzip die Daseinsberechtigung von HAES schon vor Jahren weg.

Grundsätzlich ist die Idee logisch: Dadurch, dass HAES so hochmolekulär aus Stärkemolekülen besteht, erhöht es den intravasalen onkotischen Druck und führt damit in Phasen von Hypovolämie zu einem Shift von Flüssigkeit zurück in den Intrazellulärraum. Wir erinnern uns:

Filtrationsdruck = (Pc + PIi) – (Pi + PIc)

(Pc = Hydrostatischer Druck, Kapillare, PIi = onkotischer Druck, Interstitium, Pi = Hydrostatischer Druck Interstitium, PIc = onkotischer Druck, Kapillare)

Morbidität und Mortaliät sind nach Applikation erhöht

Dummerweise konnte gezeigt werden, dass harte Endpunkte wie Mortalität und Nierenversagen bzw. Dialysepflicht signifikant nach HAES-Applikation erhöht waren.

Deshalb gilt seit 2013 schon, dass im Prinzip diejenigen Patienten, die am meisten davon profitieren könnten, es leider nicht bekommen dürfen, weil wir sie sonst recht wahrscheinlich ins Nierenversagen oder sogar den Tod treiben.

Kontraindikationen:

  • Dehydrierte Patienten
  • Hyperhydrierte Patienten
  • Intrakranielle/intrazerebrale Blutung
  • Brandverletzte
  • Schwere Hyperkaliämie, Hypernatriämie, Hyperchlorämie
  • Angeborene Herzfehler
  • Organtransplantierte Patienten
  • Leberinsuffizienz

Die einzige verbliebene Indikation ist der akute hämorraghische Schock, der sich nicht anders beheben lässt (weil nichts anderes außer Kristalloiden zur Verfügung steht), zum Beispiel im Rettungsdienst.

Seit dem ersten Rote Hand Brief 2013 haben trotzdem offensichtlich noch genügend Septiker auf Intensivstationen, die viele der oben genannten Kontraindikationen erfüllen, HAES erhalten. Und das trotz eindeutiger Warnungen, mit den entsprechend negativen Folgen für die Patienten.

HAES ist überholt, aber keiner will’s wahrhaben

Unter diesen Umständen – keine sinnvolle wissenschaftliche Grundlage, patientenschädigendes Verhalten von Ärzten – muss man HAES doch „einfach“ vom Markt nehmen können, oder?

Die Gründe sind mir schleierhaft, aber das passiert aktuell nicht. Stattdessen müssen alle Mitarbeiter einer Einrichtung, die HAES von einem Hersteller beziehen möchte, in den (Kontra-)Indikationen geschult und geprüft werden; und zwar jährlich! Das ist fast unmöglich durchzuführen in meinen Augen.

Und das für ein Medikament, das im Prinzip kaum überhaupt noch eine Daseinsberechtigung hat. Die ESA hat dafür ein Online-Portal aufgesetzt. Toll gemacht und so. Aber was soll das?

Ernsthaft. Es gibt noch deutlich risikobehaftetere Medikamente außer HAES, und die werden nicht so rigide geschult. Eigentlich müsste man in dieser Logik dann auch einen „Medikamenten-Führerschein“ mit jährlichen Fortbildungen und Prüfungen einführen.

Oder man nimmt HAES einfach vom Markt. Aber scheinbar war das eine zu einfache Lösung. Stattdessen macht es den Anschein, dass da eine „versteckte Rücknahme“ passiert. Warum? Lobby-Druck? Ist der HAES-Markt immer noch so lukrativ, dass man sich Patientensicherheit über so einen Umweg erkaufen muss?

Fragen über Fragen…

Die Online-Schulung kann man unter folgendem Link durchführen, wenn man möchte: https://academy.esaic.org/volumetherapy

Quellen:

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

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