Geisterstunde

Im 24 Stunden Dienst im Krankenhaus, kurz nach Mitternacht, geht der Funk für den Herzalarm. Einsatzstichwort: „Pforte“. Mit Vollgas durch das Treppenhaus und rein ins Foyer. Das Bild, was sich darstellte, hätte auch aus eine typischen Hollywood-Horror-Film stammen können: Ein Mann liegt auf dem Bauch in einer großen dunkelroten Blutlache im Eingangsbereich des Krankenhauses, direkt hinter den Schiebetüren. Er hat es gerade noch so über die Schwelle zu uns geschafft.

Treffen sich ein Internist und ein Chirurg

Dann treffen die anderen Alarmierten ein: Diensthabender Internist und Chirurg, sowie Ambulanz- und Intensivschwester.
„Wo kommt das ganze Blut her?“

Offensichtlich war nichts auszumachen. Der mitt-dreißigjährige Mann trug nur ein Hemd und eine Unterhose, aber ansonsten nichts. Keine Schuhe, keine Hose. Die Beine sind blutig, und er liegt in einer großen Blutlache.

Blutdruck und Puls sind stabil und der Mann ist kontaktibel. Trotzdem wird der Patient mit Viggos gespickt (grün, orange, alles mögliche). Dann wird er auf die Trauma-Liege verfrachtet (weil die einen Gummi-Bezug hat und Kein Bettlaken, was nachher völlig versaut wäre).

Alle Akteure fahren auf die Intensivstation zur weiteren Untersuchung. Eine große oder dramatische Blutungsquelle war nicht auszumachen. Lediglich ein Loch im Bereich der Gesäßmuskulatur, das etwa 0,5-1cm im Durchmesser ausmachte. Der Chirurg steckte seinen Finger zur Sondierung hinein und meinte dann nur noch: „An meiner Fingerspitze fühle ich was“. Da war der Finger aber bis zum Anschlag in der Pomuskulatur verschwunden.

Unfall während des Deutschland-Spiels

Der Patient gab auch etwas Auskunft. Das Deutschland-Spiel an diesem Abend habe er auf dem Balkon geschaut, und wollte sich etwas aus der Küche holen. Das Antennenkabel für den Fernseher hatte er aber quer durch die Wohnung gespannt. Es kam, was kommen musste: Er stolperte über das Kabel und stürzte in den gläsernen Wohnzimmertisch. Da das dann schon ordentlich geblutet habe, dachte er sich, dass er doch mal ins Krankenhaus gehen sollte damit. Warum sollte man auch einen Krankenwagen rufen, wenn man nur fünf Gehminuten entfernt wohnt? So machte er sich also auf den Weg, in der Dunkelheit, mit blutüberströmten Beinen und Gesäß, nur in Unterhose und Hemd, zum Krankenhaus. Um Mitternacht.

Na gut. Also ab ins Röntgen. Es zeigte sich ein großes keilförmiges „Stück“, das tief in seiner Pobacke steckte. Operation! Hinzuziehen des Oberarztes.

Umlagerung auf die OP-Trage, Einleitung der Narkose, Drehung in Bauchlage, um überhaupt an die Stelle heran zu kommen. Der Unfallchirurg hatte eine winzige Öffnung, durch die er letztendlich eine keilförmige Glasscherbe mit den ungefähren Maßen 3cm x 12cm entfernte! Dass das Ding dem armen Kerl nicht in sein kleines Becken vorgedrungen war, war auch alles. Es wurde dann noch etwas koaguliert und dann war die OP fertig.

Ausleitung der Narkose. Drehung zurück in Rückenlage. Überlagerung in das Patientenbett in der Schleuse. In diesem Moment rann dem Patienten, trotz eingebrachter Tamponade!, das Blut zwischen den Beinen hervor. Offensichtlich war die Blutstillung nicht erfolgreich gewesen und ein oder zwei große Gefäße immer noch offen nach dem Glasscherben-Trauma.

Alles wieder auf Anfang

Also wieder zurück auf die OP-Trage, Narkoseeinleitung, Drehung auf den Bauch. Nun kam noch der diensthabende allgemeinchirurgische Oberarzt hinzu. Und diesmal wurde alles gut.

Als der Patient nun wieder in seinem Bett lag, blutete es nicht mehr. Allerdings hatte irgendjemand das Muskelrelaxans, das mit auf meinem Tablett lag, gespritzt, und das wirkte immer noch (Atracurium). Deshalb musste ich den Patienten, beatmet mit Beatmungsbeutel, auf die Intensivstation fahren, und konnte ihn dann schlussendlich etwa gegen 6 Uhr morgens extubieren.

Da der Mensch jung und sportlich war, hat er das alles gut überstanden. Aber das war nun wirklich ein Highlight – zur Geisterstunde!

Begeisterter Anästhesist mit Faible für Teaching und Medizininformatik.

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